Erstaunliches aus dem Leben eines Umblätterers

Hamburg/Berlin/Leipzig, 27. September 2024, 12:19 | von Dique

Es ist Sonntag. Ich treffe mich mit Maltus vor der Kunsthalle und wir gehen direkt in die Blake-Ausstellung. In der Ankündigung hat gestanden, dass man hier »das erstaunliche Œuvre des englischen Zeichners und Grafikers« präsentieren würde.

Guter Teaser eigentlich. Wobei ich erwarten und hoffen würde, dass das Œuvre von fast jedem ausgestellten Künstler irgendwie auch und mindestens erstaunlich ist. Wenige Tage später werde ich zum Beispiel die Frans-Hals-Ausstellung in Berlin besuchen, dazu gleich mehr.

Back to Blake, wir betreten die Ausstellung, gelangen aber nicht direkt in den ersten Raum, sondern mehr oder weniger in den letzten, und anstatt Blake hängt hier vor allem das grafische Werk des Lokalmatadors Philipp Otto Runge, verantwortlich für die scheußlich schönen Hülsenbeck’schen Kinder, die inkarnierten Pausbacken. Was hat Runge in einer Blake-Ausstellung zu suchen, vielleicht erfahren wir es noch.

Nach ein paar Minuten schaffen wir den Reboot, beginnen in Raum 1 und gehen nun chronologisch William Blakes Werk ab. Neben den Zeichnungen und Grafiken von Blake wird auch dessen Umfeld beleuchtet (also Runge, haha), unter anderem mit Werken von Füssli und dem grooooßen John Flaxman, und wir können uns hier ein paar schöne Zeichnungen und Grafiken ansehen, auch zwei skulpturale Werke sind dabei.

Wir schwirren wie die Bienen um diese einfach nur herrlichen Flaxmans. Ich finde vor allem seine feinen Zeichnungen so großartig, oft zeichnet er Figuren mit nur einer Linie. Irgendwo, ich glaube in Friedlaenders »David to Delacroix«, habe ich mal gelesen, dass er während seines Parisaufenthalts nur wenig fand, das ihn begeisterte (wahrscheinlich war wenig Erstaunliches dabei), außer ein Gemälde von Ingres.

Bevor ich dann, wie gesagt, weiter zu Frans Hals nach Berlin reisen werde (Malle Babbe, ick hör dir trapsen!), gehe ich am Montag noch aufs LEFT TO DIE-Konzert. LEFT TO DIE bestehen aus ehemaligen Mitgliedern von DEATH, OBITUARY, EXHUMED und anderen Bands. Das Besondere ist, dass sie einfach nur mit den Songs der ersten beiden DEATH-Alben auf Tour gehen, also »Scream Bloody Gore« und »Leprosy«.

Klingt das gut, klingt das schlecht? Ich habe mich fachmännisch per YouTube informiert und konnte feststellen, dass das erstaunliche Œuvre von DEATH einfach herrlich runtergespielt wird. Ein lauschiger Abend, kurzentschlossen gehe ich ins »Knust«.

Dabei gehe ich fast nie auf Konzerte, vor allem nicht auf Metal-Konzerte, daher generelles Premierenfeeling. Und ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber ich bin dann beinah ein wenig überrascht, dass man hier komplett auf ein Klischee trifft. Schwarze Band-T-Shirt und Metalkutten, und wer noch Haare hat, der trägt sie lang. Jedenfalls alles supernett und easy.

Im »Knust« gibt es oben eine Galerie, wo man ganz ohne Schubserei die Musik genießen kann. Der Sound der Vorband ist leider furchtbar matschig und ich mache mir Sorgen, dass ich dann später die Songs von DEATH aus einem zusammengemanschten Brei heraus würde erahnen müssen. Das passiert aber nicht. LEFT TO DIE stehen toll auf der Bühne und spielen das Set runter. Ein paar Lichteffekte dazu und das ist alles. Sie beginnen mit »Choke on It«:

Choke on it
As your tongue goes down
Choke on it
Death is all around

Der Sound ist perfekt, kristallklar, crisp. Die Double Bass klickt wie zwei parallel geschaltete Singer-Nähmaschinen und die Stimme von Matt Harvey erinnert tatsächlich an Chuck Schuldiner, den ungekrönten und leider verstorbenen König des Florida Death Metal.

Ich muss hier nicht mehr viel erzählen, wenn man einmal auf dem Konzert einer geliebten Band war, deren Songs man auswendig kennt und regelmäßig unter der Dusche trällert, …

Their lives decay before their eyes
There is no hope of cure
Among their own kind they live
A life that’s so obscure
First an arm and then a leg
Deterioration grows
Rotting while they breathe
Death comes slow

… wird man nachvollziehen können, welcher Fun das ist, diese Songs full-blaster live zu hören.

Ich lehne nun da oben auf der Brüstung und genieße Song für Song, mit dümmlich-glücklichem Grinsen im Gesicht, wenn ich denke: OMG jetzt spielen sie »Forgotten Past«! und jetzt »Open Casket«! und irgendwann brülle ich dann in den Übergang zwischen zwei Stücken hinein »Pull the Pluuuuuuug!«

»Pull the Plug« ist der absolut beste Song des »Leprosy«-Albums, und nach dem nächsten Lied brülle ich noch mal und andere tun es mir gleich, alle im sinnlosen Schrei vereint wie die drei Gesellen in Rückerts Gedicht, wenn der Todesengel sie liegen sieht: »Er sah auf ihrem Munde / Die Spur des Wortes noch.«

»Pull the Plug« ist der letzte Song des Abends, die Zugabe, bevor die plugs gepullt werden, vielleicht hätten wir also gar nicht so toben müssen. Sie haben insgesamt nicht viel mehr als eine Stunde gespielt, ein richtig gutes Set, no messing around, no BS, einfach diese herrlichen Songs von DEATH runtergehauen. Matt Harvey erwähnt, dass es sich um einen Tribute für Chuck handelt, dem wir diesen ganzen Traum verdanken. Als der ganze Saal »Chuck, Chuck, Chuck!« brüllt, finde ich es ein bisschen befremdlich, so wie Leute, die im Kino klatschen, obwohl weder Filmteam noch Schauspieler anwesend sind, aber warum denn nicht.

Dann endlich weiter zu Frans Hals nach Berlin. Unmengen dieser herrlichen Portraits, viele bekannte Gemälde aus Amsterdam, London, Berlin, Dresden, schwarze Gewänder, Mühlsteinkragen und Spitze, ob um den Hals oder an Saum oder Manschette. In der Fülle ist die Wahrnehmung natürlich eine ganz andere, die Werke im direkten Vergleich, nebeneinander. Der lachende Kavalier aus der Wallace Collection in London ist ja dort der einzige Hals; hier unter all den anderen Hälsen gewinnt er an Dimension.

Ich studiere teils aus nächster Nähe, doch irgendwann sehe ich keine Pinselstriche mehr, nur noch lächelnde, ja lachende Menschen. Frauen, Männer, Kinder strahlen mich aus ihren großen Mühlsteinkragen an, und angesteckt von dieser ganzen guten Laune verlasse ich die Ausstellung durch eine der vielen Türen direkt in die Dauerausstellung und gehe zum x-ten Mal durch die wunderschöne Sammlung der Gemäldegalerie. Der Bilderbuch-Caravaggio, das erbsenessende Bauernpaar von Georges de la Tour, das erste bekannte Gemälde von Parmigianino, der Elsheimer, die Velázquez und eine der besten Madonnen mit Gurke von Carlo Crivelli.

Eigentlich bin ich in Berlin noch mit Paco verabredet, aber er hat an irgendeinem Badesee die Zeit vergessen, und so fahre ich direkt weiter nach Leipzig. Dort treffe ich am nächsten Tag John Roxton, den glücklicherweise lebenden, lebensfrohen und ungekrönten König der Massakerminiatur. Ich werde auf eine Kanalbootfahrt mit anschließendem Mittagessen eingeladen. John Roxton hat den Hals nicht gesehen, den Blake nicht und von LEFT TO DIE hat er noch nie gehört, und ich erzähle ihm das alles, und er erzählt vom letzten Bret Easton Ellis, von Iris Origo und Robert Byron, und wir sprechen über Gogol und über Rainald Goetz, denn JR hat mir freundlicherweise den Band »wrong« des großartigen Autors als Geschenk mitgebracht.

Auf dem Weg zum Treffen besuche ich noch schnell das Leipziger Museum der bildenden Künste, einfach um Klingers Beethoven und den Schmerzensmann von Meister Francke mal wieder zu sehen. Nach wie vor lebt das Museum vor allem von seinen Dimensionen, diesem mächtigen Betonklumpen mit Glaseinschüben, den monströs großen und schweren Holztüren, es lebt weniger von der Sammlung, die ich zumindest nicht als so erstaunlich bezeichnen würde wie das Werk von William Blake.
 

Rote-Beete-Saft auf dem In-Ear und Peach Melba in der FU-Mensa

Berlin, 25. Juni 2024, 20:12 | von Paco

Ich hatte heute morgen schon einen großen Topf ukrainischen Borschtsch vorgekocht. Dabei war irgendwie ein bisschen Rote-Beete-Saft auf meinen linken In-Ear gelangt. Der Tropfen war inzwischen getrocknet und leuchtete so schön karminrot, dass ich ihn nicht abwischen mochte, und mit gesprenkeltem Ohr saß ich dann in der U7 und hörte die heutige »Drinnies«-Folge (»95 Kilo Schienbein«).

Da ging es unter anderem um Speisen, die von selbst eine Haut bilden:

»Wenn sich bei eurem Gericht eine Haut bildet, dann stimmt da irgendwas nicht. (…) Für mich ist das ein Aggregatszustand von Essen, den ich nicht möchte. (…) Iiih, das Essen will sich selber schützen und sich selber eine Haut zulegen, so wie bei Ikea die Soße vom Köttbullar.« (nach Min. 21:30)

In der FU-Mensa stand heut wieder »Pfirsisch Melba-Pudding« auf dem Speiseplan – unser Teamdessert –, historisch gesehen eine systemgastronomische Schwundstufe der »Pêche Melba«, die der Meisterkoch Auguste Escoffier um 1892 anlässlich des Besuchs der australischen Sopranistin Nellie Melba am Londoner Royal Opera House kreierte.

Cortázars erster veröffentlichter Roman »Los premios« spielt ja auf diesem mysteriösen Kreuzfahrtschiff, das relativ kurz nach der Abfahrt in Buenos Aires einfach so auf dem Ozean stehen bleibt. Jedenfalls, auf der Menükarte der Schiffsküche steht eben auch die Coupe Melba, Miguel hat das Zitat schnell mal rausgesucht:

»La voz de Atilio Presutti se alzó sobre las demás para celebrar con entusiasmo la llegada de una copa Melba.«

Nachmittags war ich unterwegs zu einem Termin, als ich erfuhr, dass er kurzfristig ausfallen musste, und in einer Übersprungshandlung trat ich in den nächstgelegenen Laden – einen Kiosk. Ich schnappte mir einfach so mal wieder eine FAZ. In dem Café gleich nebenan schlug ich wie immer auf gut Glück die Zeitung auf, landete geübterweise im Feuilleton, und las dann auf Seite 14 direkt den Artikel von Thomas Combrink über das Forschungsmuseum Schöningen, das in Niedersachsen an der Grenze zu Sachsen-Anhalt liegt.

Hauptexponate sind die Speere aus der Altsteinzeit, die im nahen stillgelegten Braunkohletagebau gefunden wurden. Das Alter der hölzernen Wurfinstrumente wird auf 300.000 Jahre geschätzt und das ist natürlich der Clou: »Die hohe Bedeutung der Artefakte liegt in der Tatsache, dass Holz ein vergängliches Material ist und sich nur in seltenen Fällen über einen langen Zeitraum erhält.«

Ich nahm einen Schluck des bestellten Pritzelwassers. Mein Blick ruhte beim Trinken auf einem Senior zwei Tische weiter, der hatte eine faszinierende Gestik, erinnerte mich an eine Stelle in Antonia Baums Roman »Siegfried« aus dem letzten Jahr. Die Erzählerin und ihre Stiefoma Hilde treffen im Café Krone die Schmidtbauers, und der Herr Professor Schmidtbauer »lächelte, nicht für die Leute um ihn herum, sondern für sich, wie jemand, der nichts mehr zu erledigen hat« (S. 59f.).

Dann schnell noch vor allen andern nach Hause und die Herdplatte mit dem Borschtsch auf 3 gestellt.
 

Kafka, El Hotzo, Verabschiedungen

Berlin, 3. Mai 2024, 19:35 | von Paco

Mal ein kleiner Bericht von heute. Ich habe noch nie proaktiv Erdnüsse oder ähnliche Nussprodukte gekauft, stehe aber kurz davor, glaube ich. Und zwar geht mir der Nüsse kauende Kafka aus der gleichnamigen ARD-Serie nicht mehr aus dem Sinn.

Kafka, in der Bestbesetzung Joel Basman, dessen Finger sich in die Schale voll Nüssen versenken und ein paar davon in den Mund schaufeln, und dann geht es los, nach der Kaumethode von Horace Fletcher, kau kau schmatz, herrlich, endlos, auch beim Date mit Felice Bauer.

Aber was anderes, in letzter Zeit höre ich snippetweise in Podcasts rein, für die ich eigentlich gar keine Zeit habe, und das ist eine gute Sache, so wie man manchmal auf der Straße interessante Einzelsätze aufschnappt von Leuten, an denen man vorüberzischt.

So also kam ich zu einem Snippet aus dem Podcast von El Hotzo und Salwa Houmsi, das mich natürlich sofort erinnerte an die eine Stelle in »Faserland«, in der es heißt, dass, »wenn es keinen Krieg gegeben hätte«, dass dann »Deutschland so wie das Wort Neckarauen« wäre:

»Wenn der Freistaat Bayern so wäre wie das Wort ›einkehren‹, dann hätten wir kein Problem mit ihm.«

(Hotz & Houmsi: »Skincare-Propaganda«, 27. April 2024, ca. 57:55)

Was sonst noch, guter Empfang heute in der U3, da textete ich ein bisschen und fiel mit Josik in ein unvorhergesehenes Rabbit Hole, nämlich die Grußformeln, die man über das wunderbare Projekt correspSearch aus digitalisierten Briefen herausziehen kann, und so ging es dann hin und her:

  • »Nochmals um recht baldigen Bescheid bittend und mich aufs Wiedersehen freuend, mit herzlichen Grüssen« (Quelle)
  • »Mit der ganz untertänigsten Bitte an die Hohe Gräfliche Familie einen schönen Handkuss samt herzlichem Gruß entrichten zu wollen, unterzeichnet sich« (Quelle)
  • »Erhalten Sie mir Ihr wohlwollendes Andenken und Ihre Freundschaft, und nehmen Sie die Versichrung meiner ausgezeichnetesten Hochachtung und Ergebenheit an.« (Quelle)
  • »Empfangen Sie theuerster Freund die erneuerte Versicherung meiner ausgezeichneten und freundschaftlichen Hochachtung.«
    (Quelle)
  • »Es sind die Gesinnungen der vorzüglichsten Hochachtung und wahren freundschaftlichen Anhänglichkeit, mit denen ich verharre« (Quelle)
  • »Ich verbleibe mit tiefester Verehrung und Anhänglichkeit Ew. Königlichen Hoheit unterthanigstgehorsamster« (Quelle)
  • »Seien Sie herzlichst gegrüßt, auch von meiner Frau, die sich auf der Terrasse sonnt. Ihr« (Quelle)

Usw.

Und dann brannte noch diese Fabrikhalle in Lichterfelde und Katwarn wurde ausgelöst: »Giftige Rauchgase aufgrund eines Brandes in einem Störfallbetrieb«.

Für Luisa 🖤

Mainz, 13. April 2024, 14:40 | von Paco

In der heutigen FAZ wurde unsere gemeinsame Traueranzeige veröffentlicht.

Traueranzeige für Gisela Trahms, FAZ, 13. April 2024

Unter dem Spitznamen Luisa hat Gisela Trahms 23 Texte im »Umblätterer« veröffentlicht.

Giselas erste Mail an mich datiert vom 4. September 2010. Damals hatte ich ihren eingesandten Beitrag noch abgelehnt, da wir keine herkömmlichen Rezensionen veröffentlichen. Sie blieb aber hartnäckig, und was in Gregor Dotzauers Nachruf im »Tagesspiegel« steht, haben wir genau so erlebt: »Je älter sie wurde, desto stärker interessierte sie sich sogar für die Jüngeren.«

Sie hat sich dann wirklich in »Umblätterer«-Form und -Stil reingedacht und am 20. Juli 2011 erschien unter dem von ihr gewünschten Spitznamen Luisa ihr erster Beitrag, zur Hundertseiter-Sektion.

Legendär ihr Text über Vermeer, auf den Wolfgang Herrndorf himself in den Kommentaren reagiert hat.

Zuletzt hat sie noch den Blurb für das Hundertseitenbuch von Josik geschrieben.

Sie war auf so viele Weisen eine Bereicherung für unsere Leipziger Jungstruppe. Ich bin sehr froh, dass Sie sich uns ausgesucht hat.

*

Gisela Trahms (Foto: Jochen Trahms, lizenziert unter der CC BY 4.0)
Gisela Trahms (Foto: Jochen Trahms, CC BY 4.0)

Von der Familie stammt folgender Lebensabriss, den wir dankenswerterweise hier veröffentlichen dürfen:

Am 31. Januar 1944 wird Gisela Lore Trahms als Tochter des Ingenieurs Rudolf Schulz und seiner Frau Hildegard, geb. Koch, in Eickelborn (Kreis Soest) geboren. Der Vater wird während des Zweiten Weltkrieges 1945 in Rumänien vermisst. Die Mutter heiratet 1952 in zweiter Ehe den Bankinspektor Arno Lange, der Gisela adoptiert. Die Familie zieht nach Düsseldorf. 1963 legt Gisela Trahms am Theodor-Fliedner-Gymnasium in Düsseldorf das Abitur ab und beginnt eine Buchhändlerinnenlehre in der Schrobsdorff’schen Buchhandlung in Düsseldorf. Nach erfolgreichem Abschluss ihrer Lehre beginnt sie 1965 ein Studium der Germanistik und Romanistik in Freiburg und Kiel und heiratet 1966 in Bonn den Studenten der Medizin Hans-Joachim Trahms. Am 4. Januar 1967 wird ihr gemeinsamer Sohn Jesko geboren. Ihr Studium nimmt Gisela Trahms im Jahr 1970 wieder auf und beendet es 1974 in den Fächern Deutsch und Philosophie an der Universität Düsseldorf mit dem ersten Staatsexamen. Am 16. September 1975 wird Tochter Julia geboren. Gisela Trahms promoviert 1980 an der philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf über »Sprache und Defizit – Aspekte des Verhältnisses von Aphasie-Forschung und Linguistik«. Von 1981 bis 2005 arbeitet sie als Oberstudienrätin am Albert-Einstein-Gymnasium Kaarst bei Düsseldorf. Ab 2008 widmet sie sich voll und ganz der Literatur, schreibt Kritiken und Rezensionen in Feuilletonblogs (umblaetterer.de, poetenladen.de), schreibt für verschiedene Zeitungen wie den »Tagesspiegel«, die »Literarische Welt«, »Volltext«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (darin für die Frankfurter Anthologie) und veröffentlicht auch eigene Texte in Literatur-Magazinen (»Am Erker«, SuKuLTuR-Verlag). Von 2009 bis 2010 veröffentlicht sie außerdem gemeinsam mit ihrer Tochter den Podcast »Abicast«, in dem sie die Literatur bespricht, die Schüler*innen für das neu eingeführte Zentralabitur in Nordrhein-Westfalen kennen müssen, und so eine ganz neue Form der Lernhilfe bietet.
 

Book-Release-Party
»100 superste 100-Seiten-Bücher«

Berlin, 27. März 2024, 15:43 | von Paco

Der Band ist im Dezember 2023 erschienen, die Book-Release-Lesung fand letzte Woche, am 22. März 2024, während der Leipziger Buchmesse statt:

Leipziger Lesung '100 superste 100-Seiten-Bücher', 22. März 2024

Die Setlist wie folgt:

  1. Einleitung
  2. Agatha Christie: »Das Geheimnis von Greenshore Garden« (1954/2014)
  3. Pearl S. Buck: »Die Frau, die sich wandelt« (1937)
  4. Annie Ernaux: »La Place« (1983)
  5. Ljudmila Ulitzkaja: »Sonetschka« (1992)
  6. Irmtraud Morgner: »Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers« (1972)
  7. Marie von Ebner-Eschenbach: »Die Freiherren von Gemperlein« (1878)
  8. Doris Lessing: »Die Versuchung des Jack Orkney« (1972)
  9. Marie Darrieussecq: »Hiersein ist herrlich. Das Leben der Paula Modersohn-Becker« (2016)
  10. Elizabeth C. Gaskell: »Sechs Wochen in Heppenheim« (1862)
  11. Eva Illouz: »Die neue Liebesordnung« (2013)
  12. Saphia Azzeddine: »Zorngebete« (2008)
  13. Birgit Vanderbeke: »Alberta empfängt einen Liebhaber« (1997)
  14. N. N.: »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« (1949/2017)
  15. Marguerite Duras: »Sommer 1980« (1980)
  16. Mayra Montero: »Bolero der Leidenschaft« (1991)
  17. Yasmina Reza: »Eine Verzweiflung« (1999)
  18. Hedwig Dohm: »Werde, die du bist« (1894)
  19. Irmgard Keun: »D-Zug dritter Klasse« (1938)
  20. Gudrun Pausewang: »Wetten, daß Goethe den Wahnsinn verböte« (1992)
  21. Marguerite Yourcenar: »Mishima oder die Vision der Leere« (1980)

»100 superste 100-Seiten-Bücher« ist gleichzeitig auch Band 2 unserer bei Ille & Riemer erscheinenden Reihe »Schriften des Umblätterers«. Band 1 ist 2017 erschienen: »Abenteuer im Kaffeehaus«. Rein rechnerisch erscheint der nächste Band also in 6 bis 7 Jahren.
 

Zebra

Palma de Mallorca, 1. März 2024, 19:26 | von Dique

Danke, hab ich grad in den Messenger gesprachnachricht. Paco hat mir vor zwei Stunden einen SPIEGEL+-Geschenkartikel geschickt, den hier:

»Das Doppelleben von Ex-Wirecard-Manager Marsalek«

Was für ein Filou der Maršáboy. Und der »Spiegel«, wow, quasi seit 2015 nicht mehr in ihn reingeschaut und noch immer beginnen die Geschichten in zum Beispiel einem Hafen, wo der Mann mit den kurzen Haaren und im schwarzen Anzug an einem sonnigen Tag seine Komplizin trifft und dann irgendeine Yacht besteigt. So mitreißend wie die Romane von Frederick Forsyth, oder wie der Autor von »Die Akte Odessa« heißt?

Aber egal, der Content ist Trumpf, und ich nutze einfach mal die Vorlesefunktion, weil einen 45-Minuten-Text am Handy oder Bildschirm lesen, ich bin nicht wahnsinnig.

»Die beiden suchen den Nervenkitzel, so beschreiben Bekannte das Verhältnis. Er nennt sie angeblich ›Zebra‹. Auch sie soll ihm einen Tiernamen gegeben haben.«

Welchen, das wird nicht verraten, und das Thema wird gewechselt.

Und die »Spiegel«-Automatenstimme ist ein Traum, da bekommt man zum Spionagestoff noch ein bisschen Comedy, wenn Rémy Martin im Mandarin Oriental weggezischt wird.
 

Kein Besuch in Gaggenau

Palma de Mallorca, 13. Januar 2024, 19:07 | von Dique

Gaggenau liegt in Baden-Württemberg, hat ca. 30.000 Einwohner und erhielt laut Wikipedia 1922 das Stadtrecht. In der Wikipedia ist auch ein Bild des Rathauses von Gaggenau zu sehen. Schneereste auf dem Boden und ringsherum das typische Wetter des schleichenden nordeuropäischen Winters. Deprimierend.

Auf den zweiten Blick ist das Gebäude allerdings recht wundervoll, fünf Etagen gerader Formen und ein Arkadengang mit eckigen Säulen erinnern an rationalistische Gebäude aus dem Italien der 30er und 40er Jahre. Die Verkleidung mit den Platten aus wahrscheinlich Travertin sieht aus wie drangenietet. Gebaut wurde es 1957/58 von Karl Kohlbecker. Sein Vater hatte bereits das vorherige Rathaus gebaut, das im Krieg zerstört wurde. Hübsch.

Dann kommt aus Gaggenau natürlich noch die berühmte und gleichnamige Küchengerätefirma. Und damit könnte man die Betrachtung Gaggenaus auch schon beschließen, den Nicht-Gaggenauern unter uns wären weitere Details über die Stadt womöglich Wumpe.

So könnte das sein, auf den ersten Blick, würde es nicht Muhammed Suiçmez geben. Muhammed wurde zwar in Karlsruhe geboren, seine Band NECROPHAGIST gründete sich aber in Gaggenau.

Manchmal entstehen große Kunstwerke an ungewöhnlichen Orten bzw. außerhalb der üblichen Brutstätten der Kreativität, deren es wahrscheinlich bedarf, um so was wie die Wiener Klassik oder die Florentiner Hochrenaissance hervorzubringen. Ein Überzentrum der jüngeren Vergangenheit ist zum Beispiel Tampa, Florida, die Wiege des Florida Death Metal. Der Kontrast zwischen dem Sunshine State und der tiefdunklen Musik war für mich immer mysteriös und ironisch zugleich.

Große Zentren wie Wien, London oder New York bleiben über Jahrzehnte oder Jahrhunderte Hotbeds menschlicher Kreativität. Temporäre Zentren sind im Werden und Vergehen dagegen ziemlich schnell, von einem oder wenigen großen Geistern entfacht, ein Umkreis entsteht, bis das Feuer dann stetig erlischt, als Beispiel vielleicht die die kurze Episode von Caravaggio in Neapel mit der kurzen Blüte der neapolitanischen Caravaggisti oder Leonardo da Vinci in Mailand mit dem wunderbaren Kreis von Schülern und Nachfolgern.

In Tampa, Florida, war es ganz ähnlich, kann man ja überall nachlesen, da sind natürlich die Morrisound Studios und Scott Burns als Produzent, der die signifikante doppelte Fußtrommel erstmals prägnant nach vorne gemischt hat, neben vielen anderen Dingen! Und natürlich musikalische Lichtgestalten wie Charles Michael »Chuck« Schuldiner von DEATH. Ja klar, auch OBITUARY, DEICIDE, MORBID ANGEL und viele andere haben Spitzenplatten rausgebracht, doch Chuck Schuldiner und DEATH stehen eben noch ein ganzes Stück weiter oben auf den Schultern der Giganten, um hier mal frei Newton (berühmter Physiker) zu zitieren.

Und wie kommt man nun von Tampa, Florida, und DEATH zurück nach Gaggenau? Ganz einfach über Muhammed Suiçmez, der sich in jungen Jahren das Gitarrespielen selbst beibrachte und mit NECROPHAGIST eine der besten Tech Death Metal-Bands eben dort in Gaggenau gegründet hat. Chuck inspirierte und durchlebte mit DEATH die Frühphase des Death Metal. »Scream Bloody Gore« und »Leprosy« sind Sternstunden der Death Metal-Frühzeit. Man findet da auch schon die Komplexität des Gitarrenvirtuosen Chuck bzw. den typischen DEATH-Sound, aber es dominiert düstere Härte, die sich mit »Spiritual Healing« und dann vor allem mit »Human« in hochkomplexe musikalische Gewalt verwandelt.

»Individual Thought Patterns«, »Symbolic« und »The Sound of Perseverance« sind dann bereits vollkommen durchgestylte musiktechnische Wunderwerke. Mit der Gnade der späteren Geburt konnte Muhammed Suiçmez dann direkt anknüpfen, er musste nicht in die Erstbesteigung, sondern konnte den vorbereiteten Pfad nehmen und sich der Verfeinerung widmen.

Ich will hier nicht so tun, als würde ich irgendwas davon verstehen, und weiß nicht mal, ob für Muhammed nicht DEATH, sondern ganz andere Bands und Musiker einflussreich waren. Ich sehe aber die Parallele darin, dass Chuck und Muhammed den Sound ihrer Bands über alle Maßen geprägt haben, beide haben eines der Alben einfach mal komplett selbst eingespielt, also jedes einzelne Instrument.

DEATH waren nicht nur besonders in der musikalischen Innovation, sondern ab »Spiritual Healing« hat Chuck sich auch von den typischen Death Metal-Lyrics verabschiedet und hervorragende Songtexte geschrieben (»Within the Mind«, »Perennial Quest«, »Misanthrope«). Muhammed dagegen blieb immer bei den genretypischen blutrünstigen Grauenhaftigkeiten, deswegen sind die Lyrics allerdings nicht schlecht, aber über Titel wie »Mutilate the Stillborn« will man, vor allem ich als Nicht-Metaller, lieber gar nicht erst nachdenken, wie bei einer guten Oper sind die wirklichen Details der Geschichte wenig wichtig angesichts der unglaublichen Musik.

Das Wunder Musik bei NECROPHAGIST klingt für mich jedenfalls so ein bisschen wie Chuck Schuldiner und Pierre Boulez gemischt und auf Speed oder so. Es gibt von NECROPHAGIST leider nur zwei vollständige Alben (und zwei Demos): »Onset of Putrefaction« (1999) und »Epitath« (2004). In späten Interviews sprach Muhammed noch von Plänen für ein weiteres Album, erwähnte den Einsatz einer siebenseitigen Gitarre und weitere Ideen, jedes Instrument hörbar und wichtig zu machen.

Leider kam es dazu nicht mehr und Muhammeds Whereabouts bleiben ein Mysterium. Auf YouTube gibt es ein Video »The Search for Muhammed Suiçmez«, in dem der Autor versucht, Muhammed auf die Spur zu kommen, es wird vermutet, dass er als Ingenieur bei BMW arbeitet, Spoiler Alert: die Suche bleibt erfolglos.

Ich werde Gaggenau erst selbst besuchen, wenn es dort ein vernünftiges Reiterstandbild von Muhammed Suiçmez gibt, falls ich aber vorher noch in eine Karriere als Schriftsteller wechseln sollte, dann werde ich den Künstlernamen »Gaggenau« wählen, dem großen Marie-Henri Beyle folgend.
 

Recherche

Palma de Mallorca, 23. August 2023, 14:34 | von Dique

True story, ich las am Wochenende parallel »King Solomon’s Mines« von H. Rider Haggard, den ersten Allan-Quatermain-Roman, Vorlage für die herrlichen Filme mit Richie Chamberlain a.k.a. Pater Ralph, und Quatermain soll wohl neben dem Machu-Picchu-Entdecker Hiram Bingham auch eine Art Vorlage für »Indiana Jones« gewesen sein, aber das wird San Andreas sicher besser wissen.

Und ich sagte ja schon parallel, also parallel dazu las ich – unrelatedly – eine H.P.-Lovecraft-Biografie. Las also drauf los in den immer gleichen Seiten des Kindle-Universums und hätte 10 Kilo Erbsen und eine Pferdewurst dahingehend verwettet, dass ich gerade in »King Solomon’s Mines« las, war noch relativ weit vorn, nach ein paar Tagen wieder aufgemacht, dachte, es ginge gerade um Quatermains Jugend.

Dann stand da, dass er sich in jungen Jahren Abdul Alhazred genannt habe, ein play upon words (all has read). Ich bin jedenfalls baff! What! Das Buch ist Ende 19. Jahrhundert und Alhazred ist ja der »mad arab« aus der Lovecraft-Welt, der Autor des in Menschenhaut eingebundenen »Necronomicon«. Ich bin echt schockiert, really? Hat Lovecraft den Namen von H. Rider Haggard übernommen? Kann doch nicht sein! Ich schnappe mein Phone und beginne tatsächlich zu googeln nach Quatermain und Alhazred, aber nichts, auch beim »Necronomicon« keine Referenz, nur Lovey Lovecraft. Wtf!! Habe ich hier etwas entdeckt, ich, aber in einem Megabestseller?

Wie gesagt, true story. Leider auch Zeugnis meiner völligen Verblödung. Die Geschichte endet ein wenig wie das Bit von Louis C.K. mit dem »Awesome Possum«-Shirt, bei dem alles auf dem Shirt aufbaut und er am Ende feststellen muss, »I’m not wearing the shirt«. Ich habe dann, nach meiner »Recherche«, doch mal aus meinem Buch rausgeklickt bzw. hab mal den Titel eingeblendet, befand mich also in der Lovecraft-Biografie, okay, schade.
 

Mit »Lettre« im »Türkenhof«

München, 6. April 2023, 09:00 | von Josik

Nach ich weiß nicht wievielen Jahren habe ich gestern mal wieder Baumanski getroffen. Er war gerade kurz in town und hatte sich ein bayerisches Essen in einem bayerischen Lokal in der Nähe der Stabi gewünscht, also rief ich im »Türkenhof« an und reservierte einen Tisch.

Wir bestellten beide den Klassiker, zwei Weißwürste, Senf, eine Breze, ein Helles. Er fragte mich sinngemäß, was es Neues gebe, ich jammerte ihn kurz voll, dass ich immer noch Probleme mit meinen Stimmbändern hätte, aber eben weil ich Probleme mit den Stimmbändern habe, jammerte ich nur kurz. Ich fragte ihn sinngemäß, was es Neues gebe, und natürlich machte er wie immer so viele Dinge gleichzeitig, dass ich schon beim bloßen Zuhören kaum folgen konnte.

Wenn ich es richtig verstanden habe, langweilen ihn inzwischen solche Bücher, die innen sehr viele Buchstaben enthalten, deswegen hatte er sich, ungefähr so wie damals Lenin, in den Lesesaal der Stabi schubkarrenweise irgendwelche Bände mit sowjetischen Plakaten liefern lassen, die er nun durchblätterte. Ein kleines Geschenk hatte ich ihm auch mitgebracht, nämlich die »Lettre« Nr. 139, ich zeigte ihm den Artikel »Stelldichein in Kiew – Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque« von Philippe Videlier. Baumanski sagte höflich, er könne »die Lettre« wegen ihres albatrosartigen Formats leider nicht mitnehmen, sie habe nicht Platz in seiner Reisetasche.

Ich war etwas konsterniert, aber er löste das Problem auf eine geniale Weise: Er las den Artikel einfach sofort. Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, denn nachdem wir uns nun fünfzehn Jahre lang oder so nicht gesehen hatten, gab es natürlich eine Menge Fragen, die ich ihm noch stellen wollte. Baumanski sagte beruhigend: »Ich lese nur quer«, und tatsächlich wurde ich nun im Folgenden Zeuge davon, wie stark er inzwischen in die Querleser-Szene abgedriftet ist: Schon nach wenigen Sekunden hatte er in der zweiten Spalte aus dem Augenwinkel den Satz erhascht: »Trotzki führte eine edle Feder.« – »Aha«, rief er in den Saal hinein, »dieser Autor, dieser Franzose, was ist denn das für ein spinöser Trotzkist!«

Ich fragte Baumanski, ob ich ihn, während er den Artikel gerne querliest, einfach weiter zutexten könne, aber er sagte, und nun zitiere ich ihn wörtlich und in voller Länge:

»Nein.«

Einerseits freute ich mich, dass er damit auch auf meine Stimmbänder Rücksicht nahm, andererseits wusste ich, dass der Artikel 16 (sechzehn) Riesenseiten lang war, denn ich hatte ihn ja schon gelesen. Ich wusste des Weiteren, dass Baumanski einen eng getakteten Zeitplan hatte, und überschlug im Kopf, dass ich, nachdem er die Querlektüre oder Lektüre beendet haben würde, in dreifacher Sprechgeschwindigkeit würde sprechen müssen, um ihm alles das zu erzählen, was ich ihm noch erzählen wollte.

Ich aß betont langsam meine Breze auf, während er nun etwa bei dieser Stelle angekommen gewesen sein dürfte: »Kiew war eine recht angenehme Stadt mit rosafarbigen oder weißen Häusern und grünen Dächern. Man aß kandierte Früchte und Schwarze-Johannisbeer-, Reineclauden- oder Grüne-Johannisbeer-Konfitüre«. Um das zu erfahren, hatte ich neulich in irgendeiner Bahnhofsbuchhandlung beim »Lettre«-Kauf 15 Euro ausgegeben, und obwohl Baumanski als Ukraine- und Reineclaudenkonfitürenexperte das ja wahrscheinlich schon wusste, hatte ich irgendwie gedacht, dass es eine gute Idee wäre, ihm dieses Heft zu schenken.

Er hingegen gab mir zu verstehen, dass ich ihm etwas viel Besseres geschenkt hatte, nämlich nicht das Heft, sondern die Lektüre des Hefts. Konnte man jemandem eine größere Ehre erweisen! Wenn man Leuten ein Buch schenkt, weiß man ja doch nie mit letztgültiger Sicherheit, ob diese Leute das Buch auch lesen werden. Wenn man aber jemandem ein Heft schenkt und der Jemand das Heft sofort querliest, weiß man sofort, dass das Heft quergelesen wurde.

Auf Seite 37, das heißt auf der vierten Seite des Artikels, sagte Baumanski halb empört, halb belustigt: »Ich dachte, es geht um Revolutionsversuche in Kyjiw, aber jetzt ist er noch immer nicht bei seinem Thema angekommen.« Ich wollte etwas sagen, oder nein, ich wollte nichts sagen. »›Oje, oje! Die Revolution! Welch eine große Sache!‹«, rief Baumanski nun wieder in den Saal hinein, eine Stelle auf der fünften Seite rezitierend. Der Herr, der allein am Nebentisch saß und ein Wiener Schnitzel von einem bayerischen Kalb verzehrte, tat so, als ob er es nicht gehört hätte. »›Oje, oje! Die Revolution!‹«, wiederholte Baumanski, »was ist das für ein Schreibstil! Wer ist dieser Autor!« Er tätigte diese Ausrufe, wie der Name schon sagt, mit Ausrufezeichen, ich hörte es genau.

Es gab nun tatsächlich ein gravierendes Problem, wir hatten die Weißwürste und die Brezen aufgegessen, ich durfte nicht sprechen, aber Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich. Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich, deshalb bestellte er ein Schokosouffle. Ich war auch nicht satt, wollte aber, um meine Individualität zu unterstreichen, nicht schon wieder das gleiche bestellen wie er, deshalb bestellte ich Apfelkücherl.

Also es war so, Schokosouffle und Apfelkücherl waren die einzigen beiden Desserts auf der Karte, und eigentlich widerte mich das Wort Apfelkücherl an, ein entsetzlicher Ekel ergriff mich, wer denkt sich so einen scheußlichen Diminutiv aus, außerdem ist das Wort Apfelkücherl auch ziemlich schwierig auszusprechen, vor allem wenn man Probleme mit den Stimmbändern hat.

»Lenin stampfte in Zürich mit den Füßen« (Seite sechs). Die Apfelkücherl schmeckten überraschend gut, sogar mein Bier hatte ich dann endlich ausgetrunken. Man denkt, Apfelkücherl und ein Helles, das passt doch überhaupt nicht zusammen, stimmt aber nicht, man kann beides sehr gut parallel zu sich nehmen. Baumanski blätterte um, eine sonderbare Erregung bemächtigte sich seiner, »Danach erschien die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Ukraine, zu der Wolodymyr Wynnytschenko und sonderbarerweise auch Simon Petljura gehörten«, zitierte er, Baumanski schrie nun geradezu in den Saal hinein: »Das war überhaupt nicht sonderbar, dass Petljura der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörte!!! Das war nicht sonderbar, sondern das war ganz normal!!!!«, und korrigierte dergestalt den Autor, der allerdings, wie ich in der letzten Dreiviertelstunde genau beobachten konnte, im »Türkenhof« keineswegs anwesend war.

Baumanski schlug plötzlich das Heft zu und sagte, Polizist sei in Mexiko kein angesehener Beruf, er sei neulich in Mexiko gewesen, ein Polizist habe ihm irgendwas sagen wollen, woraufhin sich sofort umstehende Einheimische um ihn, Baumanski, geschart hätten, die den Polizisten weggejagt haben. Wir mussten los, weil Baumanski eine Verabredung mit den sowjetischen Plakaten hatte. Ich begleitete ihn noch bis zur Stabi, wo wir uns verabschiedeten, und auf dem Nachhauseweg überlegte ich die ganze Zeit, wie um Himmels willen er nun von Philippe Videliers Artikel auf diese Polizistenanekdote gekommen war, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ach ja, natürlich, auch Trotzki ist ja einmal, genau wie Baumanski, nach Mexiko gereist.
 

Was vom Tage 212 übrig blieb:
Café im Literaturhaus, Charlottenburg

Berlin, 31. März 2023, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:45 Uhr.

Sieben Monate Karenzzeit, heute letzter Tag. Ein super Ort, um dieses kleine Nichtprojekt zu beenden, ist doch das …

Café im Literaturhaus
Fasanenstraße 23
(Charlottenburg)

Espresso: €3,60.

Höchster Espressopreis bisher, dafür weiße Tischdecke und alle Feuilletons vor Ort verfügbar, am Zeitungsstock.

Keiner der Artikel in FAZ und SZ packt mich sofort, welchen soll ich zuerst lesen? Ich versuch es mal mit der Methode, eine elfsilbige Überschrift zu finden. Neulich in einer tollen Dokuserie über Nicanor Parra gesehn, in der es heißt: »Para él, los buenos titulares de diario, como las buenas frases, eran de 11 sílabas.« (YouTube)

Meine Suche ist erfolglos, zum Beispiel in der FAZ:

  • »Der Zauber burgundischer Virtuositäten« (13 Silben)
  • »Absolut offensichtliche Undurchschaubarkeit« (13 Silben)
  • »Keine Moderne ohne verschleppte Sklaven« (12 Silben)

Ich starte dann mit dem Rachmaninow-Special, denn als ich sein Porträtfoto sehe, liegen mir irgendwie sofort die Halleluja-Kaskaden im 3. Satz der »Ganznächtlichen Vigil« im Ohr. Jedenfalls bringt die FAZ anlässlich seines 150. Geburtstags »vier Plädoyers für einen denkwürdigen Komponisten«, dem oft der Kunstrang abgesprochen werde. Die Plädoyers (von Francesco Piemontesi, Jan Brachmann, Paavo Järvi und Vladimir Michailowitsch Jurowski) lesen sich alle gut weg.

Dann hinein ins 15. Jahrhundert, Andreas Kilb hat die Hugo-van-der-Goes-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie besucht und wirft erst mal mit Jahreszahlen um sich, sein Einstieg klingt wie eine typische Episode des Erfolgspodcasts »Geschichten aus der Geschichte«, den ich ja neulich schon mal erwähnt hab. Die Ausstellung hat grad erst begonnen und ich muss da eigentlich sofort mal hin, es werden zum ersten Mal fast alle erhaltenen Gemälde und Zeichnungen von HvdG gezeigt.

In der SZ lese ich nur schnell Andreas Toblers Interview mit Houellebecq, und na ja, Zeitung lesen zu können ohne Druck demotiviert mich gerade etwas. Eigentlich will ich mal wieder einen Roman zu Ende lesen, ein paar hab ich seit Beginn der Eingewöhnung angefangen, aber aus Schlaf- und Zeitmangel nicht weiterlesen gekonnt, obwohl sie alle sehr Bock machen, Tonio Schachinger »Echtzeitalter« zum Beispiel. Immerhin hab ich diese Woche Jenny Schäfers »Arbeitstage« zu Ende gelesen, ihr Tagebuch des Jahres 2021, ganz nah nachfühlbarer Struggle zwischen Kunst machen, Lohnjob (in der Kita), Mutterschaft; und Corona war ja auch noch. Der Band brachte auch kleinere Relektüren von Anke Stelling und Anna Mayr mit sich, die begeistert zitiert werden.

Sieben Monate Karenzzeit, sieben Monate wieder mal Print-Feuilleton lesen, sobald eine der vielen unberechenbar kurzen Pausen entsteht. Vor allem die drei Hamburg-Monate waren hohes Glück, will ich mich eigentlich gern gleich noch mal dran erinnern und fang am besten mit dem Eintrag vom 1. September 2022 an, als ich vor 212 Tagen im MalinaStories in Barmbek hiermit losgelegt hab. Sehr weit werd ich wahrscheinlich nicht kommen, ich denk auch eher schon an Montag, wenn mich die U3 zum ersten Mal wieder zur Uni bringen wird, und vielleicht sollte ich lieber mal ein bisschen Forschungsliteratur lesen oder so?