Zur Hölle mit der Story!
Davos, 25. Juli 2007, 10:57 | von Guest StarEs folgt ein Gastbeitrag von Stefan vom Netlabel VEB Film Leipzig als Replik auf San Andreas‘ gestrigen »Death Proof«-Verriss. – Paco
[Unter dem Vorbehalt, meine Meinung zu ändern, sobald ich den Film nüchtern gesehen habe:]
Zu allererst muss ich sagen: Der Mann hat Eier. Tarantino hat seinen eigenen Stil längst etabliert. Aber diesmal verzichtet er nahezu komplett auf ein klassisches Filmdesign: Wir sehen Plastikautos, Real-Life-Locations, Passanten im Bild etc. Da wird teilweise mit einer Totale draufgehalten, wo man mit näheren Einstellungen ästhetisch auf der sicheren Seite gewesen wäre. Kein Silikon an den Mädels, und die Darsteller dürfen uncool spielen.
Mutig auch die Dialoge: Die sind ellenlang und sehr konkret, womit er natürlich schwer Gefahr läuft, sich im Ton zu vergreifen. Trotzdem sehr authentisch. Und das muss man allen relevanten Figuren zusprechen, bei ›Butterfly‹ vielleicht mit Abstrichen, ihre Texte waren mir teilweise etwas overstyled.
All das erinnert ein bisschen an Gonzostyle-Netzvideos: keine klassische Dramatik, realer Look, Authentizität und viele Selbstreferenzen. Hier ist das sicher eher Tarantinos Vorliebe für B-Movies geschuldet als Internet- oder Videogame-Einflüssen, wie wir es vermutlich bei kommenden Filmemachern beobachten werden können.
Beim Gemetzel hat er sich ja diesmal vergleichsweise zurückgehalten. Die Story hat mir auch nichts gebracht, was aber okay war, denn das hatte der Film auch zu keiner Zeit versprochen. Subtext gibt es mehr als genug, vor allem auf formaler Ebene: der ganze Fußfetisch und das ›ich muss sie von einem V8 ficken lassen, sonst bekomme ich keinen hoch‹-Programm; das Selbst-Mitspielen ohne eigentlich überhaupt zu spielen, ›wir wollen hier nur saufen, saufen und saufen, also zur Hölle mit der Story!‹. Und wieder mal ein von Tarantino aus den Jagdgründen der Filmgeschichte ausgegrabener Hauptdarsteller, der mitten im Film plötzlich direkt in die Kamera spricht.
Was die Musik angeht: Da würde ich Tarantino tatsächlich ein gückliches Händchen zugestehen, denn Mainstream-Klassiker in den Soundtrack zu packen ist nicht ganz einfach. Wie das fehlschlagen kann, vor allem über kulturelle Grenzen hinweg, sieht man z. B. bei »Lost Highway«.
So sehe ich das: Während Tarantino zuletzt in »Kill Bill« nur seine handwerklichen Fähigkeiten trainiert hat, ist »Death Proof« ganz klar ein fetter Beitrag zur Evolution des Kinofilms – auf »Pulp Fiction«-Niveau. Innovation also.
Am 25. Juli 2007 um 13:03 Uhr
Zunächst: ich möchte meinen gestrigen Beitrag nicht als klaren Verriss verstanden wissen. Ich habe klar gemacht, dass ich weder Exploitation-Fan noch glühender Tarantino-Verehrer bin – insofern vielleicht gerade prädestiniert für eine neutrale Rezension ;-)
Innovation also. Ein großes Wort. Nur: wie kann ein Film, der eine exakte Kopie der 70er-Jahre-Exploitation-Filme ist, inklusive Ästhetik, Rollenverteilung, formaler Fehler etc., als Innovation gelten? No way. Die Originalität ergibt sich aus dem Anachronismus der Produktion im Jahre 2007, und ist folgerichtig nur scheinbar.
Die Kids haben keine Ahnung von ‚Bullitt‘, Russ Meyer oder ‚Vanishing Point‘, sie denken „Wow. Wie cool ist das denn!“ Kenner hingegen wischen sich ’ne Träne aus dem Auge und seufzen „Ja, so war das damals.“ Die Frauenpower-Idee ist nicht von Tarantino, vielmehr gehört „das Prinzip des weiblichen Racheengels in Exploitation-Filmen zur Grundausstattung“, so Quentin selbst im Interview. Nun tun manche trotzdem so, als wäre ‚Death Proof‘ das Flaggschiff der Emanzipation.
Grundsätzlich ist gegen Fans kein Anreden. Sollen die doch jeden Pieps von San Quentin feiern und seine Frauenfüße küssen, ich hab da nix dagegen. Aber wenn sie rückwärts gewandte Nostalgie-Kost als Kinorevolution feiern, geht mir das dann doch gegen den Strich. Tarantino ist ein Remixer, ein Zweitverwerter, ein Genre-Plünderer. Aber that being said- er macht das sehr sehr gut.
Am 25. Juli 2007 um 15:43 Uhr
Du bringst es auf den Punkt! Und genau das ist ja das Innovative. Tarantino macht das Remixing mainstreamtauglich und das das funktionieren kann, dafür ist „Death Proof“ der beste Beweis.
Mit der „exakten Kopie“ gehe ich allerdings nicht mit:
Neu ist für mich die radikale Abkehr vom „Stylen“. Und ich meine nicht Dogma 95-mässig: „kein Licht, keine Maske etc.“ sondern eher vom Trashigen her. Ich wette, das kommt vielen Indie-Filmern gelegen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass ein Film, von dem man eigentlich erwarten würde, dass er vom Style lebt und nicht von der Story, das gewagt hat. Zumindest nicht, wenn der Film inhaltlich nichts mit (White-)Trash zu tun hat. Damit hat er mir bewiesen, dass man einen Film wie diesen in diesem dreckigen Style machen kann. Das war mir neu.
Neu ist für mich auch, wie er den Rhythmus gestaltet: mitten während einer Einstellung knallt er die Farbe rein, dreht den Sound auf und macht dir klar, dass jetzt die nächste, sagen wir mal, „Handlungseinheit“ beginnt. Solche Stellen hat er dann zwar oft mit einer Art Montagefehler versehen, damit es den 70er-Look hat, aber ich glaube nicht, dass es das in den $50,000-B-Movies auch schon gab. Das schien mir alles ein bisschen Level-mässig aufgebaut, auch wenn ich nicht weiss, ob Tarantino von Videogames grossartig beeinflusst wurde.
Was ich ihm allerdings am höchsten anrechne: man hat das erste Mal seit Langem wieder das Gefühl, ein guter Film wäre auch mit Low Budget machbar, wenn man nur die Stunts wegliesse. Und wenn von 50.000 Möchtegern-Filmemachern, die diese Woche aus dem Kino kommen, es daraufhin nur 50 durchziehen, dann sind das mindestens 50 mehr als bei den meisten anderen Autorenfilmern, bei denen man im Kino sitzt und denkt: „Never! Krieg ich nie hin.“ Oder so.
Ich bin gespannt, wann wir den ersten Remix, der (teilweise) aus originalem Footage irgendeines Filmes erstellt wurde, im Kino sehen!
Am 25. Juli 2007 um 16:14 Uhr
Junge, Junge, jetzt hab‘ ich mich ganz schön festgelegt – da muss ich ihn echt nochmal kucken.
Am 25. Juli 2007 um 22:13 Uhr
Keine Ahnung, ob man sagen kann, DP wäre der Beweis, dass Remixing mainstreamtauglich ist. Zumindest in Amerika wollte der Mainstream von ‚Grindhouse’ nix wissen. Aber die haben auch die Idee des Double Feature nicht kapiert, die dem Rest der Welt nun gar nicht erst angeboten wird.
Aber ich weiß, was Du meinst. Tarantino hievt 30 Jahre alte Schund-Ästhetik ins Rampenlicht. Das hat was mit Verklärung zu tun, denn das Label *Tarantino* adelt. Trash ist nicht minderwertig, wenn er von Tarantino kommt. Dann ist er cool, salonfähig, hat soziale Bezüge, ist Ausdruck der Kultur und ein anthropologisches Studienobjekt. So they say. Mr. T selbst aber beteuert stets, er wolle nur spielen. Glaubt ihm kein Wort!
Mit „exakter Kopie“ gehst Du nicht mit? Aber Du musst. Du bemerkst selbst, dass das übliche Tarantino-Styling fehlt. Er hat sich diesmal stärker als sonst den Regeln und der Ästhetik des Genres unterworfen und einen perfekten Trash-Klon geschaffen. Spitze Begeisterungsschreie wie „Ein waschechter Tarantino!“ gehören in die Abteilung Wunschdenken. Selbst die Dialoge sind nicht annähernd so knackig wie in ‚Pulp’ oder ‚Bill’.
Dein Blickpunkt ist nun der des ambitionierten Indie-Filmers mit schmaler Brieftasche. Well, da steck ich nicht drin. Ich vermute aber mal, wenn Du bei DP die Stunts und die Verfolgungsjagden aus Kostengründen weglässt, hast Du ein keinen besonders interessanten Film mehr…
Am 27. Juli 2007 um 09:20 Uhr
@S.K.: Da bist du nicht alleine, auch Claudius Seidl ist vor knapp 2 Wochen in der FAS in Jubelarien ausgebrochen, schreibt dann aber, dass er den Film schleunigst noch mal sehen und »möglichst schnell überprüfen muss, ob er wirklich so gut ist, wie es einem die Bilder und Szenen im eigenen Kopf suggerieren«.
Am 27. Juli 2007 um 16:06 Uhr
Bemerkenswert, wie Herr Seidl seine überbordende, kindliche Begeisterung zu objektivieren sucht, sogar Rohmer muß herhalten. Sämtliche kontingenten Merkmale, die einfach mal damit einhergehen, eine angeschnuddelte Grindhouse-Show zu replizieren (die formalen Unzulänglichkeiten, die Bildqualität, die unorthodoxe Figurenführung…) werden flugs zu originären Tarantino-Innovationen, die Death Proof zum schieren Gral der postmodernen Kinokultur machen. Naja, man kann’s auch übertreiben. Ich muß allerdings dazu sagen, dass ich die Version gesehen habe, in der der Lapdance fehlt. Stattdessen eine Einblendung: „Reel Missing“. Fand ich sehr amüsant.