Happenings und Grunge-Partys
London, 23. August 2007, 22:46 | von DiqueWas ist los beim großen Städte-Ranking. Die deutsche »Vanity Fair« lese ich nicht, aber dort wurde ja laut Oliver Gehrs München zur coolsten Stadt erklärt, und da ist man sich immerhin einig mit »Monocle«.
Wir kennen das alljährliche Städte-Ranking. Welche ist wohl die teuerste der Metropolen, und der aktuelle Gewinner ist Moskau. London ist auch immer oben dabei, und Zürich, und Genf, und New York, und Tokio, also die üblichen Verdächtigen.
Wo es sich dagegen wirklich gut lebt und warum, ist vielleicht eine andere Frage, und da hat »Monocle« mit einem relativ einleuchtenden System nach bestimmten Grundsätzen und Annehmlichkeiten einer Stadt eben besagtes München auf den Top-Platz gesetzt.
London fliegt raus wegen seines unzulänglichen öffentlichen Verkehrssystems, der vergleichsweise hohen Kriminalität und vor allem, weil man Probleme hat, nach um 11 noch irgendwo in relaxter Atmosphäre einen picheln zu gehen.
Stimmt zwar alles, aber mit dreihundertachtundvierzig Millionen Topmuseen und Galerien, ebenso vielen Theatern, einer Handvoll Opernhäuser und unzähligen Klassik-, Rock-, Pop-Events und Restaurants jeglicher Art und Qualität könnte man bestimmte Prioritäten bezüglich der Lebensqualität infrage stellen.
Aber gut, das ist Tyler Brûlé, und John Roxton hat sicher Recht mit seiner Beobachtung, dass Brûlé eben eine Schwäche für alles Feine, Saubere und gut Funktionierende hat, am besten mit skandinavisch-nordischem Einschlag, damit eben auch eine nachvollziehbare Liebe zu Zürich, München und Wien, aber auch zu Tokio und Kyoto.
Während »Monocle« einen Maßstab anlegt, welcher eins a erklärt wird, haut uns der »Spiegel« mit recht abstruser Begründung so genannte »second cities« um die Ohren, die sich aus dem Schatten der großen, jetzt uncoolen Städte erhoben haben.
So ist auch hier London out, und Berlin und Paris erst recht, aber die estnische Vierhunderttausendeinwohnerklitsche Tallinn ist in und hip und unter anderem hier vermuten die »Spiegel«-Redakteure den nächsten Steve Jobs und/oder Bill Gates.
Mal ganz kurz: Was genau ist eigentlich cool an einem Ort, der Leute wie Gates und Jobs ausspuckt. Ist Silicon Valley cool? Will da oder wollte dort irgendwer leben, der nichts mit Computern zu tun hat?
Warum der »Spiegel« auf Krampf versucht, Amsterdam zu empfehlen, bleibt auch unklar. Die Story hangelt sich an einer Kreativen entlang, die aus Fahrradschläuchen und Luftmatratzen Handtaschen näht und, ach wie toll, die Dinger werden sogar bei Guggenheims verscherbelt.
Ansonsten wohnt die Frau in irgendeinem subventionierten Zentrum für einhundert weitere Kreative, und das ist natürlich super und vor allem cool. Amsterdam ist cool, ja, aber das war es schon immer, und das ist es eher trotz als wegen der Fahrradschlauchtaschendesignerin.
Und dann noch mal Tallinn. »Projekte für die alternative Szene, Happenings und Grunge-Partys« steht da als Unterschrift unter zwei Bildern zum Text. Grunge-Partys, meine Güte, und Happenings.
Auf einem der Fotos aus einer Tallinner Diskothek sieht man zwei tanzende Mädchen, von denen eine einen grinsenden Teufel auf die Jeans genäht hat, eben cool, und am Ende des Textes erzählt uns Erich Follath, dass man über irgendeine Entertainmentfirma einen KGB-Abend einschließlich Verhaftung und Verhör mit anschließendem Wodka-Umtrunk buchen kann.
Das klingt ungefähr so attraktiv wie eine Fahrt mit dem Trabant durch Berlin und anschließendem Eintopfessen mit Erich Mielke im Stasimuseum.
Das ist die längste Spiegelsommerpause ever, erst wurde die Kunst vor 38.500 Jahren in Deutschland erfunden und dann ist Tallinn unter den fünf coolsten Städten Europas. Der einzig gute Artikel ist der auf Seite 126 über den sehr lustigen »Islamic Rage Boy«. Islamic Rage Boy, so ein edler Name, mit dem würde ich gern mal ins Museum für Morgenlandfahrer gehen.
Am 23. August 2007 um 22:56 Uhr
„Eintopfessen mit Erich Mielke“ – exzellent =)
Am 24. August 2007 um 21:30 Uhr
Was ich noch sehr schoen fand, war das Noelle-Neumann-Jugendbild auf dem Cover des Spiegels „Vor 50 Jahren“, bitte mal Seite 8 aufschlagen.