Der Silvestertaucher:
Zwischen den Jahren in den Feuilletons
Konstanz, 3. Januar 2008, 18:26 | von Marcuccio
Hatte ich mich eben noch geärgert, die Weihnachts-FAS samt Sibylle Bergs Artikel über St. Moritz beim Snowboarden ebenda verpasst zu haben, konnte ich nach der Beinahe-Begegnung mit Putin auf der Piste und Ahmadinejacket in der Loipe nur feststellen: Das war noch längst nicht die ganze Bescherung, im Gegenteil. Und deshalb ein kleiner Rückblick auf allerlei Feuilleton-Bräuche zum Jahreswechsel.
Malen nach Zahlen bei den Perlentauchers
Es war schon ein historischer Augenblick, als am 29. 12. die erste Perlentaucher-Presseschau mit Gemälde ans Netz ging. Ob sich der Perlentaucher für diese Aktion vom »Holy Family Set« (FAS vom 2. 12.) inspirieren ließ? Ob Thierry Chervel dieses eventuell sogar eigenhändig ausgemalt und eingesandt hat, um ein FAS-Jahresabo 2008 zu gewinnen und (unserem Pilotprojekt folgend) endlich den Sonntagstaucher zu starten? Wir können nur spekulieren und warten gespannt, was wird.
Bleigießen mit der S-Zeitung
Eher Konventionelles, nämlich eine bewährte Mischung aus Rückblick und Ausblick boten die »zehn Ideen, die uns bleiben« in der S-Zeitung vom 29. 12.: »Monopol« und »Monocle« wählten München zur City of the Year, der Klimawandel forderte ebenso seinen Tribut wie Damien Hirst sein Stück vom Diamantenschädel … Am Ende hätten wir uns das ziemlich genau so gedacht, aber na gut, wenn solche Trends auch nur einigermaßen repräsentativ sein sollen, bleiben sie für uns Halbwelt-Junkies notgedrungen im Rahmen des Erwarteten. Typisch nur, dass die S-Zeitung dann mal wieder übers Ziel hinausschießt und aus ihren zehn Ideen online gleich redundante 19 Vignetten macht – wieder eine ihrer berüchtigten »unsinnigen Klickstrecken«.
Chinaböller im »Spiegel«
Was man da mit der Silvester-Ausgabe als »KulturSpiegel« für Januar frei Haus bekam, war wirklich ein Rohrkrepierer: 16 Seiten Statements, »warum Künstler Olympia so lieben« – nein danke. Nachdem schon die gelben Spione so peinlich waren, muss man auf echte neue »Spiegel«-Kracher aus dem Reich der Mitte wohl weiterhin warten. Derweil lese ich doch lieber nochmal Ulrich Fichtners unvergessene Reportage über Shenzen: »Die Stadt der Mädchen« (6/2005).
Sündenablass bei der F-Zeitung
Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern: Am 28. 12. verpuffte die Meldung, dass der Tod eines Kritikers jetzt verjährt und Martin Walser Ein liebender Mann ist, der ab Februar in der F-Zeitung vorabgedruckt wird. Am 31. 12. folgte als Schirrmacher-Chefsache ein ganzes Schreibschulden-Register, in dem die Feuilletonredaktion Altlasten in eigener Sache abtrug. Und Gerhard Stadelmaier scheint in diesem Zusammenhang bekennen zu wollen: Verantwortlich für den sprichwörtlichen Tort eines Kritikers muss gar nicht immer ein Spiralblock, es kann auch der eigene Fingerknöchel sein.
Limonaden-Countdown im Deutschlandfunk
31. 12., 23:05 Uhr: Gepflegte Unterhaltung prickelt über den Äther, wenn sich zur letzten Radiostunde des Jahres die drei »Büchermarkt«-Redakteure Hajo Steinert, Hubert Winkels und Denis Scheck zusammensetzen, um bei einem Glas Limonade das literarische 2007 Revue passieren zu lassen. In munterer Silvesterlaune plaudert Denis Scheck dann auch schon mal ein Betriebsgeheimnis aus, so etwa ab Minute 4:27: »Also, ich darf der Wahrheit Ehre geben. Ich habe ganz sicher keine Limonade vor mir stehen.«
0:00 Uhr in der FAS: »Endlich Gegenwart!«
Das Jahresend-Spezial der FAS war eine exzellente Zündung, auf die Tel-Aviv-Koinzidenz hat Cobalt ja schon verwiesen. Ich ergänze an dieser Stelle weitere ungeahnte Korrespondenzen zwischen dem Umblätterer und der FAS (Fusionsgerüchte dementieren wir indes entschieden):
Johanna Adorján hat also auch eine Tagesschau-Tante, und um die herum entfaltet sie den herrlichen Beitrag »Mensch und Maschine: Moderne Kommunikation« (S. 29). Ein astreiner Epilog auf die Rituale einer letzten Generation ohne Google, Handy usw. Ganz nebenbei erweitert sich hiermit auch das von Paco ins Leben gerufene Rubrum Software & Erinnerung um die nicht unbedeutende Dimension der Hardware (Stichwort Wählscheibe).
Auf derselben Seite, links neben Adorján, serviert uns Nils Minkmar »Mensch und Margarine: Kapitalismus als Passion«. Ein schöner Review zum Lekr-Markt an der Ecke Hufeland-/Bötzowstraße in Berlin und nach dem (verpatzten) Auftakt durch Alexander Marguier das, wie ich meine, erste wahre Supermarkt-Feuilleton.
Das war sie denn auch schon fast, die feuilletonistische Bescherung zum Jahreswechsel. Folgt nur noch ein schöner Brauch: Unsere Bekanntgabe der Best of 2007.
Am 4. Januar 2008 um 11:11 Uhr
Den Adorján-Artikel fand ich auch herrlich. Und in der Tat kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Google und Wikipedia heute noch funktionieren sollte. Man würde wohl verrückt werden, ob der vielen unbeantworteten Fragen, die einen ständig quälten.