»Los nuestros«:
Der Kanon des lateinamerikanischen »Booms«

Leipzig, 8. Februar 2008, 07:03 | von Paco

Heute endlich Zeit gehabt, den Artikel »¿Qué se hizo de Luis Harss?« des Romanciers Tomás Eloy Martínez zu lesen, erschienen vor gut zwei Wochen in der Kulturbeilage der argentinischen Zeitung »La Nación« (Ausgabe vom Samstag, 26. 1. 2008). Die Magazinrundschau des Perlentauchers hat ihn bereits kurz erwähnt und zitiert, hier folgt eine ausführlichere inhaltliche Zusammenfassung, sonst macht es wieder keiner, hehe.

Der Artikel ist 32.500 Zeichen lang, und ich habe ihn nur im Netz gelesen, aber damit könnte man hierzulande locker 3 großformatige Feuilleton-Seiten füllen. Es gibt eine vorwortartige Einführung von Eloy Martínez, darauf folgt als Hauptteil ein Interview mit Harss, das von einer Art Epilog abgeschlossen wird.

Zur Vorgeschichte: Im November 1966 hat Luis Harss zusammen mit Barbara Dohmann den Essayband »Los nuestros« herausgegeben, der aus heutiger Sicht den Autorenkanon des lateinamerikanischen Literatur-»Booms« deklarierte. Harss hatte das Buch zunächst auf Englisch geschrieben; diese Version erschien dann ein Jahr später unter dem Titel »Into the Mainstream: Conversations with Latin American Writers«.

Der »Boom« der lateinamerikanischen Literatur ist mittlerweile natürlich historisch, trotzdem aber immer noch ein nicht zu unterschätzender verlagspolitischer Faktor, wenn es um die Vermarktung lateinamerikanischer Autoren geht.

Zum Anlass des Interviews: Bei der Feier seines 80. Geburtstags soll García Márquez in die Runde gefragt haben, was eigentlich aus Luis Harss geworden sei. Keiner wusste etwas, aber kurz darauf lief ihm Eloy Martínez zufällig in Buenos Aires über den Weg. Sie plauschten kurz, vertagten aber tiefere Gespräche auf ein andermal und tauschten dafür die Adressen ihrer US-amerikanischen Wohnsitze aus.

Luis Harss lebt in Mercersburg, Pennsylvania; Eloy Martínez lehrt an der Rutgers University, New Jersey. Als Kompromiss verabredeten sie sich auf ein Treffen in der Amish-Stadt Lancaster, die ungefähr in der Mitte zwischen beider US-Wohnungen liegt.

In seiner Einführung beschreibt Eloy Martínez kurz die Gegend und das Leben der Amish. Deren religiöser Habitus stehe etwa im Gegensatz zu den aufragenden Getreidesilos, die er als bedrohlich erscheinende Phallusse interpretiert: »Los silos parecen grandes falos amenazantes, coronados por cúpulas con inequívocas formas de glande.« Na ja, okay.

Dann folgt das eigentliche Interview. Zunächst erzählt Harss, dass er in den 60ern in Paris in der Auslage eines spanischen Buchladens »Rayuela« liegen sah und nach der Lektüre eine Übersetzung begann, die er schließlich Cortázar persönlich zeigte. Dieser hatte leider bereits einen Übersetzer, und so musste Harss sein erwachtes Interesse in einem anderen Projekt kanalisieren.

Harss hatte damals keinen Überblick über die lateinamerikanische Literatur. Ein New Yorker Verleger, Roger Klein von Harper & Row, wollte ihn dazu überreden, eine Interviewserie mit einigen Autoren zu machen, was Harss vorerst ablehnte: »No los conozco. No sé quiénes son.« Nach der Begegnung mit Cortázar ging es aber Schlag auf Schlag, er erweiterte seine Lektüren und suchte die nächsten Autoren auf.

Er schrieb das Buch, wie gesagt, zunächst auf Englisch. Als der New Yorker Verleger Selbstmord beging, verlor sich das Projekt jedoch und wurde erst wieder für die spanischsprachige Ausgabe reaktiviert.

Harss hatte damals Gespräche mit 10 Autoren geführt, zu denen sowohl bereits bekanntere gehörten (Borges, Asturias) als auch noch unbekannte (Alejo Carpentier, Onetti, Cortázar, Fuentes, Vargas Llosa). Er hat nie kommentiert, warum er gerade diese Autoren ausgewählt und warum er andere, auch bereits durch die europäische Kritik akzeptierte Autoren, ausgelassen hat. Genau das interessiert jetzt Eloy Martínez.

Harss berichtet von einer sich selbst so bezeichnenden »Mafia« lateinamerikanischer Autoren, die damals über die Welt verstreut war und die spanische Sprache als ihr gemeinsames Zuhause betrachtete. Cortázar empfahl ihm den noch völlig unbekannten Vargas Llosa, und von ihm ging es weiter reihum von Empfehlung zu Empfehlung.

Den schon über 60-jährigen Guatemalteken Asturias, der 1967 den Nobelpreis bekommen sollte, besuchte er etwa in Genf. Das Interview mit dem brasilianischen Autor Guimarães Rosa in Rio de Janeiro wurde übrigens auf deutsch geführt; hier kam auch die Mitautorin Barbara Dohmann ins Spiel.

Zur Frage, warum er bestimmte Autoren ausgelassen habe, liefert Harss eine erwartbar banale Antwort: Entweder kannte er sie noch nicht, oder deren Werke gefielen ihm nicht wie im Falle von José Donoso (»me pareció ambicioso y mediocre«) und Ernesto Sabato (»como novelista, me parecía de un dramatismo banal y estereo­tipado«).

Am Ende sprechen sie schließlich über Harss‘ erklärten Herzensautor, den 1964 verstorbenen Felisberto Hernández, den er ins Englische übersetzt hat, sowie über Roberto Bolaño, dessen Vermächtnisroman »2666« er nicht zuende gelesen hat, weil er die professoralen Hauptfiguren darin so langweilig fand.

Im Epilog beschreibt Eloy Martínez noch die Enttäuschung, die Harss der Misserfolg seines 1968 publizierten Romans »La otra Sara o la huida de Egipto« beschert hat. Er kehrte damals Argentinien den Rücken und ging nach West Virginia. Im Moment arbeite er an einem zweibändigen Roman namens »Ani y la vida«, es bleibe abzuwarten, ob er die durch sein Land erlittenen Enttäuschungen in Literatur verwandeln kann.

Fazit: »La Nación« hat da einen herausragenden »Was macht eigentlich«-Artikel veröffentlicht, in dem sich Literaturgeschichte auf interessanteste Weise mit alten und neuen Anekdoten mischt.

Eine Reaktion zu “»Los nuestros«:
Der Kanon des lateinamerikanischen »Booms«”

  1. Paco

    nur als nachtrag: heute hat nach > 4 monaten die nzz endlich nachgezogen und bringt das interview in einer uebersetzung, allerdings ohne vor- und abspann, da fehlt also ein gewaltiges stueck stimmung, denn es ist ja ein herrlicher treppenwitz des realismo mágico, dass sich die beiden ausgerechnet in der amish-stadt lancaster treffen.

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