Die Vermeesung der Kunst
Leipzig, 22. Februar 2008, 06:02 | von PacoGabriel ist zurück. Der Überschriftenerfinder. Er war in den Fußstapfen von Harald Schmidt und Juan Moreno auf einer Weltreise, »um gewisse Studien zu vervollständigen«, wie er selber sagt. So habe er endlich den tieferen Zusammenhang (den es eigentlich nicht gibt) zwischen dem französischen ›c’est‹ und dem hebräischen ›זה‹ verstanden, die ja komischerweise intersprachlich eine ungefähre Homophonie bei ungefähr deckungsgleicher Semantik verbindet. Solche Erkenntnisse seien für einen Headliner Gold wert.
Anyway. Jetzt müsse er wieder ein bisschen Geld verdienen, daher kurz wieder Leipzig. Und sein neuestes Werk sei die Überschrift zu einem kritischen Artikel über Jonathan Meese und dessen Einfluss auf die Kunst und den Betrieb. Eine nicht näher genannte Hochleistungszeitung hatte angefragt. Den Namen des Artikelschreibers kenne er, wie immer, nicht. Und das hier sei also jetzt die Headline, an der er eine ganze Woche intensiv gearbeitet habe:
Gabriel hat dafür 3.500 Dollar eingestrichen, allegedly. Warum er in Dollar bezahlt wird für eine deutsche Überschrift, diese Frage fällt mir erst jetzt ein. Warum er so viel Geld für nur 4 Wörter bekommt, das frage ich dagegen nicht mehr. Von dieser Überschrift werden alle reden, mindestens eine Woche lang. Sie wird den Text, dem sie vorsteht, unerheblich machen.
Eine gute Feuilleton-Überschrift mache man nicht so nebenbei. Es gebe zwar auch in diesem Métier Anfängerglück, aber wenn die »Jungle World« für ihre Titelzeile mal eben den Layouter ein bisschen brainstormen lässt, das sei doch wohl so wie beim Schuster ein Walnussbrot kaufen: In seltenen Fällen hat der alte Schuhklopper vielleicht zufällig eins da, aber dann wird es sicher nach Schuhcreme und siechendem Leder riechen und nicht nach Walnuss und frisch gebackenem Teig.
Warum die »Vermeesungs«-Überschrift so gut ist, vielleicht die beste des Jahres, auf jeden Fall ihr Geld wert?
Sie lebt vor allem natürlich von der parodierenden Anspielung auf Daniel Kehlmann und seinen bestsellerischen Gauß/Humboldt-Roman »Die Vermessung der Welt«. Eine derartige klangbasierte Parodie könne aber jeder verbrechen, so Gabriel. Wenn sie dann aussagemäßig nicht zum parodierten Gegenstand passe, bleibe sie aber ein Kalauer, »das schlimmste Verbrechen der Semantik«. So sei es übrigens bei den meisten Überschriften, dadurch werde jede Langzeitwirkung zerstört.
Gabriel rechnet die Wirkung von Überschriften ja immer aus, ich weiß aber immer noch nicht, was genau er damit meint.
Seine »Vermeesung« werde wie alle Hit-Überschriften erst durch all die Nebeneffekte wirklich tiefgängig. Allein die Ersetzung der ›Welt‹ durch die ›Kunst‹ sei ein Volltreffer. Dann gebe es noch solche Faktoren wie den, dass ›Meese‹ und ›-mess-‹ auch an das griechische ›μέσος‹ (›mesos‹) erinnern, zu dt. ›mittig‹, ›Mittel-‹. Es ruft also den Terminus Meso-Mäßigkeit auf den Plan, so wie einige Leute ›Meso-Amerika‹ für ›Mittelamerika‹ sagen. Die Assoziation ›Meese-Mäßigkeit‹ stelle sich dann schnell ein, und diese Hervorhebung der Vermittelmäßigkeitung (whoa!) sei auch genau die von der Zeitung nachgefragte Tendenz des Artikels, den ja irgendein Kunsthistoriker bzw. Kunstkritiker schreibt bzw. schreiben wird.
Freilich entspräche das Meso-Wort letztlich eher dieser explodierend-bunten »Spiegel Online«-Wortspiel-Ästhetik. Aber eben nicht nur. Und ob die Meso-Anspielung überhaupt gleich jemand mitbekomme, das sei nicht die Frage. Über eine gute Überschrift könne man eben länger nachdenken als über ganze Celan-Gedichtbände. Und die Meso-Mäßigkeit bestimmter Kunstwerke und einer bestimmten Künstlergeneration werde ja eh vom Artikelschreiber thematisch bespielt, insofern gebe es da kein verschossenes Pulver.
Eine gute Feuilleton-Überschrift, sagt Gabriel, muss den kompletten dazugehörigen Artikel ersetzen können. Sie muss der Artikel sein. Und das schafft diese Headline, hier also noch mal der sozusagen komplette Artikel zu Jonathan Meese, seiner Kunst und deren Einfluss auf all die mediokren Strömungen im kontemporären Kunstbetrieb:
Am 5. April 2009 um 12:48 Uhr
Dann gibt es auch die Vermeesung der Philosophie, wenn Meese Heidegger liest wie hier:
http://www.youtube.com/watch?v=K_F86BAdeNw
Schönen Gruß, Malte Herwig
Am 5. April 2009 um 16:15 Uhr
Sehr gut, das wäre vor allem für die Heidegger-Rezeption überhaupt mal ein schöner neuer Blickwinkel, nachdem die Diskussion über die müßige Arbeit von Emmanuel Faye zur »Introduction du nazisme dans la philosophie« mit der dt. Übersetzung jetzt gerade zum zweiten Mal stattfindet.
Am 6. April 2009 um 15:33 Uhr
@Paco / off topic
Eine meiner Meinung nach sehr gute Kritik des Faye-Buches (welches ich allerdings nicht gelesen habe) findet sich bei Glanz und Elend (das ist übrigens keine Schleichwerbung, sondern direkte Werbung!)