Die (nicht durchgeweichte) FAS vom 6. 4. 2008:
Altwerden als Schreckensvision
London, 7. April 2008, 00:55 | von Dique
Eisiger Wind, Schnee, und ich trage die FAS unterm Arm, unterm Mantel, damit sie nicht durchweicht. Befinde mich auf einem Umweg zum Lisboa, muss noch mein Wochenticket verlängern. Überall Straßensperren und Menschenaufläufe. Ach ja, hier wird wohl jeden Moment die olympische Fackel vorbeirennen.
Ein paar tibetische Fahnen, aber es scheint sich kein ernsthafter Protest zu formieren. Polizei überall. Ich warte natürlich nicht auf die Fackel, laufe aber quasi der Fackel entgegen, recht schnell, an den die Straße flankierenden Menschen vorüber, die FAS unterm Arm, unterm Mantel.
Ich denke, dass jeden Moment ein Elitepolizist den Griff seines Assault Rifles in meinen Rücken rammen wird und ich zu Boden gehen muss. Dann wird die Stelle von 5 weiteren Polizisten gesichert, und einer reißt mir den Mantel auf. Statt einer Waffe ist da aber nur die aktuelle FAS drunter … würde man in so einem Fall die Reinigung ersetzt bekommen, denke ich gerade, da sehe ich tatsächlich die Fackel, das olympische Feuer, und das Szenario könnte nicht unolympischer sein.
Ein Chinese in blauem Joggingzeug trägt die Fackel, weitere, in einer Traube drum herum, eskortieren sie. Alle halten an, vielleicht ist die Fackel ausgegangen oder kurz davor zu erlöschen bei diesem Mistwetter? Davor dann tatsächlich eine Eliteeinheit der Polizei, und davor fährt ein offener LKW, überladen wie in der Dritten Welt, aber die Passagiere sind ausschließlich Fotografen und Kameraleute.
Irgendwann dann doch noch Kaffee und die FAS. In Maxim Billers »Moralischer Geschichte« dann gleich mehr zum Thema, irgendwie. Ihr zufolge hieß der Dalai Lama in seiner Kindheit Itzik Kaganowitsch, und was das bedeutet, sollte man unbedingt in diesem kleinen Text nachlesen (S. 32).
Auf S. 27 ist ein Interview abgedruckt, welches Johanna Adorján mit einer sehr relaxt und sympathisch rüberkommenden Silvia Bovenschen führte. Es geht um ihr neues Buch »Verschwunden«, über das Verschwinden von Dingen. Sie erinnert sich daran, wie ihr einmal der Computer gestohlen wurde, und dass nach dem Schock auch ein Moment der Erleichterung einsetzte, Chance zum Neubeginn.
Gestern erzählte mir jemand von einem Bekannten (vielleicht war das also auch eine urbane Legende), der umgezogen ist. All seine Sachen wurden auf einen LKW verladen, sein Leben, oder zumindest sein Besitz. Der LKW wurde gestohlen und tauchte nie wieder auf.
Das vorletzte Buch von Silvia Bovenschen hieß übrigens »Älter werden«, und Johanna Adorján hat das in ihrer ersten Frage gleich in die Feststellung verpackt, dass Älterwerden ja auch eine Art von Verschwinden ist. Die Medienseite konfrontiert uns dann mit dem Altwerden als Schreckensvision. »Morgen gefällt Ihnen das auch!« heißt der ausgezeichnete Text von Peer Schader, der uns vor und hinter die Kulissen der Volksmusiksendungen des Fernsehens führt (S. 33):
»(…), und die Isartaler Hexen bedienen E-Gitarren zu einem Playback, in dem keine einzige Gitarre zu hören ist. Da wippt sogar der Mann vom Brandschutz am Studioeingang mit.«
Alt geworden ist auch David Rockefeller, der Enkel des Gründers des Familienimperiums. Er gibt ein bisschen Geiz- und/oder Sparsamkeits-Blabla von sich, kommt immer gut bei superreichen Gründernaturen (S. 54/55). Über Warren Buffett wird ja auch immer gern angemerkt, dass er in einem Haus lebt, welches er vor ca. 50 Jahren für schlaffe $31,000 erwarb.
Und IKEA-Gründer Ingvar Kamprad nimmt für sich beim Zugfahren den Seniorenrabatt in Anspruch und fährt nur 2. Klasse, denn: »Mit 80 Jahren bin ich eindeutig Senior.« So steht es dann tatsächlich auf der letzten Seite von »Geld & Mehr« (S. 58).
Am Ende des Gesprächs mit David Rockefeller wird es dann ein bisschen persönlicher. Enkel Rockefeller zeigt Parallelen zu Ernst Jünger, auch er ist Käfersammler. 150.000 Arten hat er nach eigenen Angaben archiviert. Das Interview mit dem humorvollen alten Herrn endet wie folgt:
Rockefeller: »Kürzlich erst habe ich in der Wüste Marokkos ein bemerkenswertes Exemplar entdeckt und mit nach Hause genommen.«
FAS: »Ist das erlaubt?«
Rockefeller: »Ich habe nicht gefragt.«
FAS: »Sind Käfer wertvoll?«
Rockefeller: »Nicht im Vergleich zu den französischen Impressionisten.«
Seine Kunst hat Herr Rockefeller freundlicherweise dem MoMA vermacht bzw. wird es vermachen. Was aus den Käfern wird, hat er nicht gesagt.