»Harzreise im Sommer«:
Gustav Seibt auf der Suche nach Andacht
London, 20. Juni 2008, 07:28 | von Paco
AAACHTUNG! Ich bin Gustav Seibt und suche Andacht! Und Kuchen! Im Osten! Das scheint das Motto des Autors zu sein. Es geht um den reportageartigen Artikel »Harzreise im Sommer«, der in der S-Zeitung vom 9. Juni veröffentlicht wurde (S. 11). Er ist leider mal wieder nicht im Netz, nur beim Perlentaucher, im DLF-»Fazit«, auf Spreeblick und in der »jungen welt« gibt es Spurenelemente des Textes.
Seibt war in osteutschen Kirchen unterwegs, vor allem in »Sachsen-Anstalt« (Oliver Kalkofe) und Brandenburg, und beschreibt nun seine Abenteuer. Leider ist seine Studie nicht religionssoziologisch unterfüttert: Dass die DDR nun mal im protestantischen Kernland stattfand und das eben Folgen hatte, scheint ihm entgangen zu sein, und daher klingt sein Text wohl auch so verschnupft. Es ist auch unklar, an wen er jetzt genau gerichtet sein soll, es handelt sich eher um einen langen pingeligen Eintrag ins Gästebuch ostdeutscher Hotels, Kirchen und Museen.
Die Überschrift
Gabriel, der Überschriftenerfinder, von dem hier ab und zu die Rede ist, fiel der Text schon wegen der selten misslungenen Überschrift auf: »Für SZ-Verhältnisse ein schlimmer Fauxpas.« Sowas hatte er noch nie gesagt.
»Harzreise im Sommer«, das spielt natürlich auf Heinrich Heines »Harzreise« an und gleichzeitig aber irgendwie auch auf dessen »Deutschland, ein Wintermärchen«. Offenbar hat der zuständige Überschriftenredakteur diese beiden Dinge durcheinandergebracht. Denn Heine unternahm seine Harzreise im September 1824, also irgendwo zwischen Spätsommer und Herbstanfang. »Harzreise IM SOMMER« suggeriert nun aber, dass irgendjemand Berühmtes mal eine »Harzreise im Winter« unternommen hat, was ja nicht der Fall ist.
(Edit: An alle Seibtologen! Der gerade gelesene Witz wird in den Kommentaren so halb erklärt – thanks to our all-too anonymous readers. Der Spaß hat auch mit den »10 Sekunden Googeln« zu tun, um die es hier gleich noch geht.)
Auf lustig geschrieben
Zurück zum Text. Seibt beschwert sich an mehreren Stellen über den Eintritt, der in vielen Kirchen zu entrichten ist. Er stellt das als ostdeutsches Phänomen dar. In Italien, nur mal als Beispiel, kann man aber auch öfters ordentlich was bezahlen für eine Kirchenbesichtigung, teilweise sogar doppelt, wie Niklas Luhmann mal irgwendwo in einer Fußnote berichtet hat.
Seibts Text ist trotz des vorherrschenden Unmuts auch erkennbar auf lustig geschrieben:
»Sachsen-Anhalt bezeichnet sich auf Schautafeln am Wegrand als ›Land der Frühaufsteher‹, das aber heißt: Kirchen und Museen schließen dort einvernehmlich um 17.00 Uhr, es gilt der Stundenplan des Kollektivs, ausgeschlafen wird nicht, und am Abend herrscht die Ruhe der Toten. Andacht am Feierabend ist nicht vorgesehen.«
Also DDR-Relikte-Bashing, und warum auch nicht, das kann Gustav Seibt ja auf jeden Fall machen. Nur stimmt es nicht mal, was er schreibt. Jetzt werde ich zwar etwas pfennigfuchsig, aber schon 10 Sekunden Googeln bringen ans Licht, dass die Dome in Magdeburg, Merseburg, Naumburg und Quedlinburg länger geöffnet haben, außerdem die Hallenser Laurentiuskirche, St. Bonifatius und St. Marien in Bernburg, St. Peter und Paul in Dessau, um nur mal eine Handvoll zu nennen. Die 10 Sekunden Googeln hätten die gesamte Textstelle zunichte gemacht, denn »17 Uhr« klingt einfach untouristischer und muss eben die Stoßrichtung des Textes stützen.
Okay, vielleicht schießen die gegoogelten Schließzeiten etwas übers Ziel hinaus, aber man kann schon mal darauf hinweisen, dass es ein wenig unlauter ist, aus einem allgemeinen ein ostdeutsches Phänomen zu machen. Als Abgleich wieder der Blick nach Italien, wo Kirchen oft nur bis 13.00 Uhr geöffnet haben, und das war’s dann für den ganzen Tag. Let’s call it Entchristianisierung, wie Seibt das tut, hehe.
Dann noch zur Kuchenepisode:
»Jeder französische Kleinstadtbäcker würde vor Scham im Boden versinken vor dem, was im Harz als ›selbstgemachter Kuchen‹ angeboten wird: ein labberiger Fertigboden mit Erdbeeren belegt und von einer dicken Gelatineglasur geschmackstötend zugekleistert.«
Über diese Stelle hat sich schon das DLF-»Fazit« mokiert, ich kenne aber mindestens zwei Leute, die Fans dieser Textpassage sind. Alles in allem ist Seibts Unmutstext ein würdiger Kandidat für den besten schlechten Text des Jahres, so wie weiland Christine Dössels Lawinky-Porträt.
Übrigens scheint Seibt doch ab und zu auch ein Freund ostdeutscher Landpartien zu sein, mir fällt da spontan sein Artikel vom letzten Jahr ein (SZ, 6. 9. 2007), der zwischen Wittenberg und Weimar die »Toskana« Deutschlands ausmachte. Da war er entschieden besser gelaunt im Mitteldeutschen unterwegs, schrieb aber auch nicht über Kirchen und ihre Öffnungszeiten.
Am 20. Juni 2008 um 20:15 Uhr
Habe gestern in Arnstadt ein Stück Apfelkuchen gegessen. Ui. Der war lecker.
Heute in Dornheim eine spontane fünfminütige Führung durch die Traukirche von Jay S. Bach bekommen. Außerhalb der Öffnungszeit.
Am 20. Juni 2008 um 20:23 Uhr
die liegen beide in thueringen, vielleicht lag es daran LOL
Am 21. Juni 2008 um 21:39 Uhr
Harzreise im Winter
Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied!
Denn ein Gott hat
Jedem seine Bahn
Vorgezeichnet,
Die der Glückliche
Rasch zum freudigen
Ziele rennt:
Wem aber Unglück
Das Herz zusammenzog,
Er sträubt vergebens
Sich gegen die Schranken
Des ehernen Fadens,
Den die doch bittre Schere
Nur einmal lös’t.
In Dickichts-Schauer
Drängt sich das rauhe Wild,
Und mit den Sperlingen
Haben längst die Reichen
In ihre Sümpfe sich gesenkt.
Leicht ist’s folgen dem Wagen,
Den Fortuna führt,
Wie der gemächliche Troß
Auf gebesserten Wegen
Hinter des Fürsten Einzug.
Aber abseits wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.
Ach, wer heilet die Schmerzen
Deß, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ungnügender Selbstsucht.
Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Offne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste.
Der du der Freuden viel schaffst,
Jedem ein überfließend Maß,
Segne die Brüder der Jagd,
Auf der Fährte des Wilds
Mit jugendlichem Übermut
Fröhlicher Mordsucht,
Späte Rächer des Unbills,
Dem schon Jahre vergeblich
Wehrt mit Knütteln der Bauer.
Aber den Einsamen hüll‘
In deine Goldwolken!
Umgib mit Wintergrün,
Bis die Rose wieder heranreift,
Die feuchten Haare,
O Liebe, deines Dichters!
Mit der dämmernden Fackel
Leuchtest du ihm
Durch die Furten bei Nacht,
Über grundlose Wege
Auf öden Gefilden;
Mit dem tausendfarbigen Morgen
Lachst du in’s Herz ihm;
Mit dem beizenden Sturm
Trägst du ihn hoch empor;
Winterströme stürzen vom Felsen
In seine Psalmen,
Und Altar des lieblichsten Danks
Wird ihm des gefürchteten Gipfels
Schneebehangener Scheitel,
Den mit Geisterreihen
Kränzten ahnende Völker.
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst.
Am 21. Juni 2008 um 22:49 Uhr
oh mann, genau das ist ja der witz gewesen oben, also bitte noch mal genau lesen und das naechste mal nicht die pointe verraten, sonst muss ich wieder »hehe« dahinter schreiben, hehe.
Am 23. Juni 2008 um 17:00 Uhr
Sehr guter Goethe Witz („jemand Berühmtes“), aber die Welt ist
offenbar noch nicht reif für sowas :-)
Am 24. Juni 2008 um 21:04 Uhr
Ich habe beim lesen auch erst gedacht: Hää, sind die blöd (mit Verlaub), kennen die Goethes Harzreise im Winter nicht? Nachdem das hier aber zum Glück als Witz gekennzeihcnet wurde, sage ich danke, denn das Ostgeschimpfe von G. Seibt durch die anspielende Überschrift auch nur in den Dunstkreis des existentialistischen Goethegedichts zu heben, ist gelinde gesagt unbotmäßig. Zwar nicht zu vergleichen mit dem Obamas-Hütte-Gau der TAZ, aber trotzdem unschön.
Am 22. Juli 2008 um 19:10 Uhr
Verständnisfrage: Warum spielt der Titel – wenn überhaupt – auf Heines Harzreise an und nicht auf die „Harzreise im Winter“von „jemand Berühmtem“? Und wo liegt der Witz bei Goethe?
Am 25. Juli 2008 um 02:32 Uhr
@hakima: ja also eigentlich sollte es dazu noch einen extra beitrag geben, aber dann ist das hier inzwischen alles doch self-explanatory. warum der überschriften-guru gabriel die sz-überschrift jedenfalls so unfasslich fand, hängt mit dem von leser dumbledore erwähnten fauxpas zusammen, über dieses »ostgeschimpfe« die anspielung auf ein sehr unschimpfliches goethe-gedicht zu pappen. so etwas gilt bei der stilsicherheit der (gedruckten) s-zeitung eigentlich als unmöglich, und deshalb musste ich probehalber mal so tun, als gäbe es goethes »harzreise im winter« gar nicht. aber selbst das hat nix geholfen, hehe.
Am 14. Oktober 2008 um 10:57 Uhr
ich war jetzt auch in Quedlinburg und Umgebung, kenne den artikel von Seibt nicht, muß aber sagen, daß ich unterschiedliche öffnungszeiten kennengelrnt habe, mal waren die kirchen offen bis 17 uhr, mal ganz geschlossen. das Wiener Cafe in Wernigerode war spitze, aber ein großteil der DDR-bürger nervt. „Früher war es doch schön, wir hatten alles!“
jetzt wo mit unserem und EU-Geld die wunderbaren KATHOLISCHEN kirchen (von den Protestanten okupiert und von den Reformierten zertrümmert – Halberstadt und Jerichow -) wiederhergestellt, die Fachwerkhäuser wunderbar renoviert, auch von Westdeutschen Partnerstädten, riskieren sie die lippe, daß es früher so schlecht nicht war. und warum die Montagsdemonstrationen gerade in diesen wunderbaren gebieten? vergeßlich ist der mensch…ich weiß nicht, ob Goethe was dazu gesagt hat, jenny
p.s. bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich die Kunst liebe!