Das Wetter vor 95 Jahren
Konstanz, 15. August 2008, 06:20 | von MarcuccioDas Wetter vor 95 Jahren, nicht zu verwechseln mit Wolf Haas‘ Roman »Das Wetter vor 15 Jahren«, nach dessen Lektüre sich der »Zeit«-Rezensent Hubert Winkels »postkoital erschöpft« fühlte, das Wetter vor 95 Jahren also präsentierte sich so:
»Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagerndem Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«
Natürlich: Das ist der berühmte Wetterbericht, mit dem Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« anhebt, der neben dem Joyce-»Ulysses« und der Proust-»Recherche« allseits anerkannte Dritte im Bunde der »dicken Drei« der klassischen Moderne.
Meteorologie als epische Aufgabe
Das Tolle an diesem Wetterbericht: Er ist ein »Tagesthemen«-Strömungsfilm vor seiner Zeit: Denn natürlich sind Isothermen und Isobaren, die ihre Schuldigkeit tun, Ironie pur: die (noch) heile Welt Kakaniens fügt sich sogar am Himmel in ihre satte atmosphärische Ordnung.
Wer den Wetterbericht aber nur den poetischen Fähigkeiten Musils zuschreibt, der wird nun eines Besseren belehrt. Wie Hermann Bernauer in seiner kleinen, feinen Studie namens »Zeitungslektüre im ›Mann ohne Eigenschaften‹« schreibt, war so ein epischer Wetterbericht damals das Normalste von der Welt:
»Die Wetterberichte in den Wiener Zeitungen um 1913 waren von einer Ausführlichkeit, wie sie heute unbekannt ist. (…) Die Wetterkarte wurde nicht gedruckt, sondern beschrieben (…). Daher (…) technisches Vokabular, das einige Ansprüche stellte an das Vorwissen der Leser. Die Neue Freie Presse brachte ausser den täglichen Wetterberichten Mitte und Ende des Monats noch einen ausführlicheren über das Wetter der vergangenen Wochen, geschrieben von einem Meteorologen.« (S. 149)
Und dann wartet Bernauer tatsächlich mit einem solchen O-Ton auf, und auffällig natürlich zuallererst die Tatsache, dass Meteorologen vor 95 Jahren noch nicht »Ben Wettervogel« hießen:
»Ausdauernd schlechtes Wetter. Von Dr. O. Freiherrn v. Myrbach, Assistenten der Zentralanstalt für Meteorologie.
›Wie zu befürchten war, hat das heurige Sommerwetter im Wesentlichen den Charakter treulich beibehalten, den es von Anfang an trug. Seine Härten haben freilich etwas nachgelassen (…). Das will aber noch nicht viel sagen, denn der Beginn des Sommers war so aussergewöhnlich schlecht, dass auch die spätere Zeit trotz der Besserung noch als schlecht bezeichnet werden muss …‹.« (S. 150)
Das war in der »Neuen Freien Presse« vom 15. August 1913 zu lesen. Der Wetterbericht als narratives Entertainment, er begann also schon Jahrzehnte vor der Kachelmann’schen Blumenkohlwolken-Show. Und auch der Meteorologe als Wettertröster bei schlechtem Wetter praktizierte schon, immerhin: er hatte sprachlich Niveau.
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Hermann Bernauer: Zeitungslektüre im »Mann ohne Eigenschaften«.
München: Wilhelm Fink Verlag 2007. (Verlagswebsite / Rez. FAZ)