Was es heißt, Grass zu lesen
Leipzig, 17. September 2008, 16:32 | von Paco»Die Zeit« hatte die äußerst gute Idee, das neue autobiografische Günter-Grass-Buch »Die Box« von jemanden besprechen zu lassen, der vorher noch nie ein Buch von Grass wirklich gelesen hat, und zwar von dem Autor Andreas Maier. Der so entstandene Artikel »Und Vater fand endlich Ruhe« war vor drei Wochen Aufmacher des Literatur-Teils (Nr. 36/2008, S. 53/54) und ist ein heißer Kandidat für unsere Feuilleton-Top-Ten 2008.
Maier hatte davor lediglich in Grass‘ »Treffen in Telgte« mal reingelesen. Auch die »Blechtrommel« hat er kurz mal aus dem Regal eines Bekannten hervorgezückt: »Ich hatte eine Viertelstunde Zeit und las den Anfang.« Immerhin: »Er schien mir kraftvoll, ich musste an Max Frischs Stiller denken.«
Das Experiment der »Zeit« erinnert an ein ähnliches Experiment der »FAS«. Sie hatte den letzten »Harry Potter«-Band von Jochen Schmidt (sagen wir mal:) rezensieren lassen, obwohl er die 6 Vorgängerteile gar nicht kannte (und sich darüber in der Wikipedia informierte).
Damals wie heute geht es also darum, ob man Bücher überhaupt lesen kann, die am Ende eines Œuvres stehen, ohne dass man die etlichen Vorgängertexte zur Kenntnis genommen hätte.
Ebenso wie Schmidt liefert Maier einen souveränen Text ab, der eben dieses Problem implizit mitdenkt. Nur weil er noch nie ein Grass-Buch gelesen hat, kann er im folgenden ganz unvoreingenommen mal beschreiben, was es überhaupt heißt, Grass zu lesen.
Für jüngere Literaturkritiker ist jedes neue Grass-Buch ja immer wieder die Aufforderung, die eigenen Verriss-Künste zu proben. (Mir fällt da spontan der Sundermeier-Text zum »Krebsgang« ein, der das rezensierte Buch inhaltlich und stilistisch locker in den Schatten stellt.)
Maier dagegen hat seine Beobachtungen ganz nüchtern hingeschrieben, fern jeder Polemik. Am deutlichsten scheint ihm die Diskrepanz zwischen einfachem, chronologischen Inhalt und formaler, stilistischer Verkomplizierung: »Aus dem formalen Aufwand schließe ich, dass der Autor dem einfachen Text, der zugrunde liegt, nicht traut«, schlussfolgert Maier. Den titelgebenden Hauptkniff, die »Box«, nennt er dann aber sogar »einen schönen Einfall«.
Letztlich ist Maiers Beschreibung natürlich doch ein Verriss. Er hat das neue Grass-Buch »recht beflissentlich, aber (…) ohne einen Funken Begeisterung« gelesen, wie der Perlentaucher zusammenfasst.
Arno Schmidt hat ja mal extrapoliert, dass man in seinem Leben höchstens 3.150 Bände lesen kann, und »die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!« Mit Maier hat also einmal mehr jemand exemplarisch festgestellt, dass man von Grass Abstand halten und eine Ausnahme nur machen soll, wenn man von der »Zeit« dazu beauftragt wird.
[Dank an Artificios für den Hinweis!]
Am 17. September 2008 um 16:41 Uhr
Ich will niemanden langweilen, wenn ich an dieser Stelle nun doch einmal auf Herrn Krachts Drei-Wort-Einlassung zu Grass aus der aktuellen NEON (“Nazis on Viagra.”) so wie auf Art Garfunkels ebenso heroische wie akribische Lektüredokumentation seit Ende der 1960er Jahre (“In between, the list ticks off, at a rate of 2.16 books a month, a dazzling syllabus that’s a testament to steroidal self-improvement, as well as to the magical time-furnishing powers of royalty checks”) hinweise.
Am 24. September 2008 um 21:27 Uhr
Die Pose, noch nie etwas von Grass gelesen zu haben, ist ein bisschen dem Märchen von dem Kaiser und seinen neuen Kleidern abgeschaut.
Maier zeigt letztlich nur, mit welchen sprachlichen Mitteln dieses Buch geschrieben ist – plus entsprechender Zitate. Ein Verriss ist das noch lange nicht, weil zu dem eine gewisse Empathie gehört. Die verweigert Maier bis zum Schluss.
Am 24. September 2008 um 21:51 Uhr
@Gregor: Ist im Prinzip richtig, ich denke sofort wieder an den wummernden Radisch-Verriss der »Wohlgesinnten«. Aber manchmal ist es treffender, ohne einen Funken Empathie einfach mal zu schildern, was man gelesen hat. Das funktioniert bei Maier, zeig mir einen, der nach dieser Besprechung noch Lust hätte, das Buch zu kaufen, geschweige denn zu lesen.
Am 24. September 2008 um 22:34 Uhr
@Paco
Ich hab‘ sowohl die „Wohlgesinnten“ gelesen (fast nur wegen des Verrisses durch die Radisch – ich habe ihr nachträglich in vielem Recht gegeben) und ich werde auch „Die Box“ lesen.
Am 24. September 2008 um 23:50 Uhr
@Gregor: Deinen ausführlichen Wohlgesinnten-Nachklapp habe ich sehr gern gelesen. Mehr dazu demnächst hier auf dem UMBL, Zeit wird’s, nachdem Littells Buch in der letzten FAS ja der Sensations-Status abgesprochen wurde (S. 24). Vielleicht setzt ja nun auch ANH seine Lektüre fort.
Und bitte, denk an Arno Schmidt, lass die »Box« links liegen. ;-)
Am 25. September 2008 um 12:33 Uhr
Es ist aber doch, mit Verlaub, eine ziemlich deutsch-selbsthassige Sache, auf die eigenen Größen einzuschlagen – völlig egal, ob zu recht oder unrecht: in anderen Ländern, die weniger lustfeindlich sind als das unsere, werden Nobelpreisträger geehrt, man geht auch nachsichtig mit ihnen um, wenn sie vielleicht ein wenig älter werden… aber auch sonst, berühmt ist de Gaulles „einen Sartre verhaftet man nicht“ – völlig undenkbar in diesem unserem Richter- und Henkerland. Daß sich Autoren da einreihen, finde ich kläglich. Es gibt Aufträge, die lehnt man ab, Herr Maier, und zwar, weil man von vornherein weiß, auf was der falsche Hase hinauslaufen soll. Ob Grass vorgeblich gut oder schlecht schreibt, das spielt nämlich gar keine Rolle.
P.S.: Mit ist bekannt, daß Sartre den Nobelpreis abgelehnt hat; aber darum geht es hier nicht.
Am 25. September 2008 um 13:11 Uhr
@ANH: So schlimm war die Rezension dann doch nicht. Ich fand es eine gute Idee von der »Zeit«, mal jemanden ein Grassbuch besprechen zu lassen, der eben nicht seit Jahrzehnten alles von ihm lesen muss, also einen mehr-oder-weniger normalen Leser. Ein Nicht-Literaturangestellter hat eben keine Zeit, jedes Buch von jedem Autor zu lesen. Es gibt ja auch Leute, die zum Beispiel »Buenos Aires. Anderswelt« als erster ANH-Buch überhaupt lesen, was ich bei der Anlage des Œuvres für relativ sinnlos halte, aber es gibt sie. Wenn dann jemand seine Erfahrung mit dem Buch beschreibt, wie Maier das bei Grass getan hat, bricht das endlich mal das Genre ›Rezension‹ auf, auch weil man nicht ständig vergleichende Sätze hören muss à la »Wie schon auf Seite 150 in Grass‘ drittem Roman …« Gegen die ich nichts habe, aber die Maier-Rezension hat auch mal die andere Seite des Lesens gezeigt.
Am 25. September 2008 um 15:34 Uhr
Ok. Ich meine nur, daß die B e w e g u n g hinter solchen Aufträgen zu eindeutig ist, um drauf einzugehen (ich habe ja durchaus eigene Hühnchen mit Grass zu rupfen)… und halt… prinzipiell: man ist hierzulande derart verbohrt protestantisch gesonnen, daß einem Erlösung ganz zu recht auf ewig verwehrt ist. Schon deshalb, trotz meiner eigenen Grass-Hühnchen, rufe ich nachdrücklich aus: bei jemandem, der die Blechtrommel geschrieben hat, den Butt geschrieben hat, das Treffen in Teltge geschrieben hat, bin ich g l ü c k l i c h, daß er als Deutscher den Nobelpreis bekam. Und alles andere spielt eine Nebennebennebennebennebennebenrolle – so sehr „neben“, daß man eigentlich nur lächeln sollte, anstelle Texte gegen Grass zu schreiben – sofern sie nicht einen unmittelbar drängenden, d.h.:verletzenden, Anlaß haben.
(Mit >>>> Buenos Aires. Anderswelt fangen manche Leute einfach deshalb an, weil man es grad so billig im Modernen Antiquariat bekommt. Es funktioniert aber trotzdem, ich bin da manchmal selbst erstaunt.]
Am 25. September 2008 um 15:49 Uhr
Blechtrommel & Telgte: auf jeden Fall. (Es sind auch genau die Texte, von denen Maier mal ein paar Seiten gelesen hat, wenn man seiner Rez. glaubt.) Allerdings wird seit Jahrzehnten genau das überall geschrieben, dass bei allen schlechten Büchern, die Grass so schreibt, diese beiden Texte indiskutabel hervorragend sind und es bleiben werden. Diese Behauptung (der ich ja zustimme) wird aber seit Ewigkeiten einfach nur weitergetragen, sodass man langsam gar nicht mehr weiß, ob das überhaupt (noch) stimmt. Da wäre es mal gut, wenn ein bisheriger Grassverschonter die mal lesen und die »Zeit« in ihrer Experimentierlaune dessen Bericht dann drucken würde.
Am 25. September 2008 um 16:38 Uhr
Aber wozu? Weshalb läßt man es nicht einfach bei dem Nobelpreis, ehrt den Mann, wo es nur geht, ehrt sich dabei selber und freut sich im übrigen, daß es den kleinen und großen Hitlers n i c h t gelungen ist, die deutsche Kultur zu zerstören? Sò, und den ganzen Überprüfungs- und Genauigkeits-Pulerei-Wahn überläßt man späteren Germanistengenerationen. Mir geht es hier, verstehen Sie mich bitte richtig, gar nicht um die Texte an sich, sondern um eine grunddeutsche Haltung permanenter Selbst-Miesepetrigkeit und Autoaggression, ohne die wahrscheinlich die ganze Hitlerei nicht mal möglich gewesen wäre oder wenigstens eingeschränkter wie der Faschismus in Italien. Wir stehen da, ohne es zu merken, in einer höchst unguten Permanenz. Es ist doch s c h ö n, daß Grass den Nobelpeis bekommen hat, es ist doch ganz ganz klasse! Da ist es doch absolut wurscht, ob seine späteren Bücher das Niveau halten. völlig Banane. Mir geht dieser unterschwellige Neid auf die Nerven, diese öde Mißgunst der Deutschen untereinander, diese protestantische meaculperei, die kein Abtestat kennt, und die man genau deshalb auf andere projeziert (die das dann auch noch, zugegeben, provozieren, siehe den Flakhelfer-Quatsch eines noch knapp Pubertierenden). Ah, was ein lustfeindliches Land!
Am 25. September 2008 um 17:52 Uhr
Wie sollte denn Ihrer Meinung nach dieses lustfeindliche Land aussehen?
Lauter Gary Glitters mit superenger Lederkluft, die kleinen Kindern den Sex erklären, die spielerisch hineinkreisen in etwas in dass diese Wichser so gar nichts zu suchen haben. Was ist denn ein lustvolles Land, ein Volk dass den ganzen Tag nur ans vögeln denkt.
Sonst gibt es keine Probleme?
Übrigens, die Nazis sind an die Macht gekommen weil die Wirtschaft sie dabei unterstützten, alles andere ist lächerlich.
Am 25. September 2008 um 18:47 Uhr
Im evangelischen Religionsunterricht des »Lateinzuges eines neusprachlichen Gymnasiums« lernte ich »Katz und Maus« und den Tag an dem Tulla Pokriefke geboren wurde kennen. (Im Deutschunterricht war so was verpönt.) Gehört im Original habe ich von ihnen in der Kombination Günter Grass und Günter »Baby« Sommer. – Wer meint, darauf verzichten zu können – ohne Gas könnt ihr nicht kochen.
Am 25. September 2008 um 21:11 Uhr
@Heiboldt.
Die Nationalsozialisten sind an die Macht gekommen, weil eine deutliche Mehrzahl im Volk sie wollte. Alles andere verschiebt die Schuld. („Verschiebung“ ist ein psychoanalytischer Terminus für eine bestimmte Art der Reaktionsbildung; machen Sie sich nur kundig.)
Im übrigen ist, mehr zu vögeln, ganz immer ein guter Rat. Er führt zu glücklichen (und glücklich erschöpften) Menschen.
Am 25. September 2008 um 21:31 Uhr
Das Problem bei Müllhaufen ist: Wenn man sie nicht beizeiten wegräumt, werden sie immer größer. Größer und Größer. Und noch größer. Und immer größer. Und irgendwann haben sie eine solche Größe erreicht, dass man sie mit irgendetwas anderem verwechselt, zum Beispiel mit einem literarischen Werk. So im Fall des Müll-Kilimandscharos von Günter Grass.
Diesem ungeheuren Müllberg kommt man einfach nicht mehr bei mit einer alten Verordnung von Jürgen Trittin oder so. Auch nicht mit Literaturkritik. Denn Literaturkritik wurde erfunden, wie der Name schon sagt, um Literatur zu kritisieren.
Nein, wenn das Zeitfenster verpasst ist, in dem man da vielleicht noch vor 20 Jahren einen Reinhold Messner (mit Sauerstoffflaschen) hätte losschicken können oder zwei gut trainierte Gebirgsjägereinheiten des Kommandos Spezialkräfte, wenn dieses Zeitfenster also verpasst ist, dann hat man ein echtes Problem. Wie renaturiert man so ein Ding? Von Abtragen kann ja nun schon lange nicht mehr die Rede sein.
Man könnte sich natürlich mal bei den Chinesen umhören. Die haben Erfahrung mit großen Landschaftsprojekten, Staudämmen etc… Oder man fragt bei den Russen nach, wie die das in Tschernobyl gelöst haben. Andererseits: Die Russen zu fragen, wäre politisch nicht korrekt. Schließlich hat Deutschland den Krieg damals angefangen. Da können wir jetzt nicht zu den Russen gehen und sagen: Räumt uns mal bitte den Mount Müll von dem Grass hier weg. Frei nach dem Motto: Macht uns mal unsere Stalingradtoten wieder lebendig. Obwohl der eine oder andere das gerne tun würde. Aber man kann auch nicht zu den Amerikanern sagen: Baut uns gefälligst Dresden wieder auf. Macht Köln wieder ganz. Das wäre politisch nicht in Ordnung. Nein, es gibt einfach bestimmte Kriegsfolgen, die wir ganz allein tragen müssen, und es gibt eine moralische Schuld, die ganz auf deutscher Seite liegt und dort auch für immer bleibt. Ohne Diskussion. Der muss Deutschland sich einfach stellen. Darf sie nicht einfach verdrängen, schönreden, uminterpretieren oder gar leugnen. Klar, Dresden tut weh. Köln tut weh. Hamburg tut weh. Der ganze Luftkrieg tut weh. Noch heute. Und klar war Deutschland vor den beiden Weltkriegen eine Kulturnation. Aber dass es nun eine Günter Grass-Nation samt zerbombten Städten ist, geht ganz auf unsere Kappe. Deutschland hat nun mal den Krieg begonnen. Und es hat ihn verloren. Und der Peak Müll von Günter Grass gehört mit zu den schmerzhaften Konsequenzen, die Deutschland zu tragen hat. Man muss sich im Grunde ernsthaft fragen, ob Hitler das in seiner größenwahnsinnigen Politik der verbrannten Erde nicht auch noch bewusst eingefädelt hat. Zu seinen letzten Worten im Führerbunker gehörte bekanntlich: „Das deutsche Volk hat versagt. Es hat verdient, unterzugehen.“ (Unter-Gehen. Wo unter? Unter was? Wie hat er das gemeint?)
Aber es wäre auch ein Verbrechen, würde man den Müllberg von Günter Grass spurlos beseitigen, womöglich durch eine groß angelegte Bücherverbrennung. Abgesehen von der Belastung mit CO2 und Dioxinen liefe das letztlich bloß wieder auf Verdrängung hinaus. Und am Ende sogar auf Leugnung. Eine Bücherverbrennung darf es nicht geben! Den Müllberg von Günter Grass gibt es in diesem Land und es wird ihn gegeben haben. Punkt. Und eine Grass – Müllberg – Lüge darf und wird nicht toleriert werden! Und einfach Grass über diese Sache wachsen zu lassen, wäre ein schwerer Fehler. Irgendwann käme es dann nämlich doch wieder ans Licht. Und eine junge Protestgeneration würde fragen: Wie konnte es geschehen, dass ihr den Müllberg von Günther Grass zugelassen habt? Habt Ihr das einfach verdrängt?
Was also tun? Die Sache in die Ausschüsse vertagen, wäre eine Lösung. Warten? Aussitzen? Tee trinken. Guido Knopp könnte eine Sendung machen. Zeitung lesen. Aber Zeitung lesen? Kaum schlägt man die Zeitung auf, wen oder was sieht man da….?
Ein anderes wirklich nicht zu unterschätzendes Problem zeigt sich darin, dass jeder, der sich heute an diesem Müllberg zu schaffen macht, sofort mit schmutzigen Händen da steht. Das liegt nun mal in der Natur von Müllbergen. Wem soll man so etwas ernsthaft zumuten?
In ernsten Krisensituationen sind neutrale Vermittler immer das Beste. Und deshalb hat Schweden uns vor ein paar Jahren geholfen und dem Berg einen internationalen Status verliehen. So muss Deutschland die Last nicht mehr ganz alleine tragen.
Allerdings, das darf auch nicht verschwiegen werden, hat diese gut gemeinte schwedische Maßname einen peinlichen Müllbergtourismus nach sich gezogen. Das weiß man auch von Obersalzberg. Auch dort gibt es heute eine Form von Tourismus, den man lieber nicht sähe. Aber den ganzen Obersalzberg kann man eben auch nicht einfach abtragen.
Selbst wenn man den Müllberg von Günter Grass abtragen könnte, also nur mal theoretisch, dann würde was übrig bleiben? Ein verkokelter Ground Zero.
Dann müsste man sich mit den Amerikanern auf diplomatischem Wege verständigen, dass der Ground Zero des Müllbergs von Günter Grass auf keinen Fall in seiner Bedeutung verglichen werden kann, mit dem Ground Zero von New York… usw.
Im Übrigen sollten jetzt alle Anstrengungen darauf konzentriert werden, zukünftige Müllberge zu vermeiden. Wir werden also mit dem Müll-Kilimandscharo von Günther Grass leben müssen. Aber weil leben müssen bei einem solchen Müllberg nicht hinreicht, lassen wir ihn jetzt jedes Jahr hochleben.
Dass der Nationalsozialismus und der zweite Weltkrieg eine beispiellose Katastrophe mit apokalyptischen Ausmaßen und furchtbarsten Konsequenzen weit über alle beteiligten Generationen hinaus war – ja bis in unsere heutige Zeit ist! – daran, liebe Frau Eva Hermann, kann und darf es nicht den geringsten Zweifel geben!
So gehört auch der Müllberg von Günter Grass in seiner ganzen anklagenden Monstrosität letztlich zur generationenübergreifenden Tragödie des 20igsten Jahrhunderts. Auch er ist ein negatives Denkmal. Dem wir Deutschen uns auch zu stellen haben. Wir werden uns davon nicht einfach abwenden. Sondern stehen vor ihm und hören, wie er uns aus der Höhe seines Abgrunds zuruft: Wehret den Anfängen! Nie wieder Krieg!
Am 26. September 2008 um 00:31 Uhr
@ANH und Paco:
Da Sie, lieber Herbst, schon einmal die zukünftigen Germanisten-Generationen erwähnen:
Ich habe sowohl Andreas Maiers Rezension als auch Grassens ‚Box‘ gelesen und habe mit beiden ein Problem, freilich ein je andersartiges: Maiers Rezension hat mir missfallen, weil sie in einem schlechten Stil geschrieben ist. In einem Stil, den Maier (den ich übrigens als Romanautor für besser halte) auch in seinen VOLLTEXT-Kolumnen pflegt und der wohl irgendwie postmodern sein soll, aus dieser aber nur die Beliebigkeit importiert. Das kann man, Paco, als Modernisierung der Gattung Rezension auffassen, aber ich frage: wozu eine solche? Rezensionen sind, namentlich im heutigen Feuillleton, Gebrauchstexte, die Leser auf Bücher aufmerksam machen resp. sie vor ihnen warnen sollen. Das kann stilistisch hochklassige Texte hervorbringen, denken Sie an Franz Schuh oder Rolf Vollmann oder andere VOLLTEXT-Rezensenten. Maiers Text gehört nicht zu diesen, da er über das Buch nichts aussagt, allenfalls, da gebe ich ANH Recht, alte Grass-Ressentiments aufkocht.
Ich habe also ‚Die Box‘ nicht wegen Maiers Rezension gelesen, sondern weil ich einen Folgeroman zu ‚Beim Häuten der Zwiebel‘ erwartet habe, zu – meiner Meinung nach – jenem Buch, das Grass die letzten Jahrzehnte eigentlich schreiben wollte, aber nicht konnte und sich stattdessen hinter Schlechterem wie ‚Ein weites Feld‘ oder ‚Im Krebsgang‘ versteckt hat; jenem Buch, in dem er endlich sprachlich auf der Höhe der ‚Blechtrommel‘ das beschrieben hat, was ihn und andere seiner Generation umgetrieben hat, und diese Erfahrung bis in die Fünfizger Jahre hinein verlängern könnte.
Allein, ich gestehe esw freimütig: die Enttäuschung war groß. Sei es, daß Herbst ab den Sechzigern nichts Berichtenswertes mehr eingefallen sein mag. Sei es, daß er wiederum Manschetten hatte, die Sprache der ‚Zwiebel‘ durchzuhalten. Die Zuflucht zur Umgangssprache seiner Kinder, die nun über den blbisch grundierten Patriarchen allerlei Anekdötliches zum besten geben, trägt diese Buch keinen Zentimeter weit. Und siehe da: Ich frug mich, wie ich einen Rezensionsauftrag zur ‚Box‘ ausgeführt hätte – nach dieser Lektüre! – Möglicherweise ähnlich wie Maier, indem ich die Belangosigkeit dieses Werkes schlicht gespiegelt hätte, allerdings mit Bauchgrimmen ob dieser Notlösung.
Herr Herbst, über die mannigfachen Gründe nationalsozialistischer Machtergreiung braucht heute, nach Kershaw, Gruner und Klemperer nicht mehr gestritten zu werden. Ob allerdings Maiers Rezension wie auch das habituelle Grass-Bashing (über dessen politische Liebedienerei übrigens in der Tat zu diskutieren wäre) nun aus dieser Wurzel stammt, scheint mir doch sehr fraglich.
Protestantische (Achtung:) Leitkultur ist wieder ein anderer Faktor. Diese drückt sich aber, das darf ich als Gemanist bescheiden einwerfen, eher in einer hegemonialen Literaturgeschichtsschreibung aus als in den Ephemerika des zeitgenössichen Feuilletons.
Am 26. September 2008 um 01:02 Uhr
@Aikmaier: Die Wirkung der Maier-Rezension ist gut beschrieben: »die Belanglosigkeit dieses Werkes schlicht gespiegelt«, und genau das halte ich für eine Leistung. Kein Blabla & keine Referenz auf Frühwerke als Kompetenzbeweis, einfach nur beschrieben, was es eigentlich gleich noch mal wirklich heißt, Grass zu lesen.
Rezensionen sind sicher meist Gebrauchstexte, ist ja auch ok, we love the German feuilleton dafür, aber wenn sie es mal nicht sind, dann muss man das zusätzlich feiern, und das tun wir hier mit unserer jährlichen Feuilleton-Top-Ten, in diesem Zusammenhang sei, nur mal als Beispiel, an Stephan Maus erinnert.
Am 26. September 2008 um 12:09 Uhr
@ Paco: Ich verstehe schon, was Sie meinen. Und ich sehe auch ein, dass Der Umblätterer genau auf solche, sagen wir: Abweichungen in der täglichen Feuilleton-Praxis spitzt.
Aber, mit Verlaub: Wer eine «Referenz auf Frühwerke als Kompetenzbeweis» abtut, begibt sich in argumentative Nähe zu einem tatsächlich typisch deutschen Anti-Intellektualismus. Nach dem Motto: Wer viel gelesen hat und dann noch darüber spricht, tut dies fraglos nur zum Zweck der Angeberei („Blabla“!). Genau dieser Impetus unterliegt auch Maiers Rezension, in der ein bekennender Grass-Nichtleser (ob Pose oder nicht ist hier egal) uns verkünden will, was es denn heiße, Grass zu lesen!! (Ob eine solche Aussage überhaupt sinnvoll ist, sei dahingestellt.)
Sicherlich hat die ‚Box‘ nichts mit dem ‚Treffen in Telgte‘ oder der Danziger Trilogie zu tun, wohl aber mit dem ‚Häuten der Zwiebel‘, als dessen Fortsetzung sie ja aufzufassen ist (oder wäre). Darauf darf ein Rezensent hinweisen, sollte es vielleicht sogar, um die Fallhöhe zwischen beiden Werken zu bestimmen. Nichts davon bei Maier. Wie ich oben sagte: Ich kann nach der Lektüre Maiers Un-Stil menschlich als Notlösung verstehen, halte seinen Text aber damit noch lange nicht für irgend gelungen.
Zu Ihren Top Ten 2005: Ja, da sind einige Kracher dabei (Respekt übrigens vor der Leseleistung durch ALL DEN Blätterwald); aber auch Ärgerliches: Über Prantls Verriss von Di Fabio habe ich mich ebenso geärgert wie weiland über Schirrmacher und den ‚Tod eines Kritikers‘, weil in beiden Fällen, ganz unabhängig vom jeweiligen Ausgang, einfach Konventionen verletzt werden. Man verreißt keine Bücher Monate vor dem Erscheinen oder anstelle eines zugesagten Vorabdruckes, und schon gar nicht mit solch perfiden Mitteln, die den „Meinungsjournalismus“ doch bedenklich in Richtung Rufmord ausdehnen.
Das sind Ärgernisse, wie sie leider die Geschichte der bundesrepublikanischen Literaturkritik seit dem Team-Up von Walter Jens und Marcel R-R gegen Gerd Gaiser begleiten.
Am 26. September 2008 um 12:32 Uhr
@Aikmaier: Gegen Vergleiche aktueller Bücher mit Vorgängern kann man ja gar nichts haben. Nur hat mir der Effekt des »Zeit«-Experiments gefallen: Durch die Unkenntnis des Grassgesamtwerks spielt auf einmal der Klang des Einzelbuchs eine Rolle, solche Experimente können auch die Frage beantworten, ob es sich noch um ein Buch, eine Handlung, ein Stil sui generis handelt oder doch »nur« um eine Fortsetzung.
Es stimmt insofern schon: Wir kaprizieren uns auf Feuilletontexte, die auch mal unerhörte Töne anschlagen, auch und gerade, wenn das nicht gleich richtig gelingt oder wenn sie unlauter wirken wie der Di-Fabio-Verriss oder neulich Gustav Seibts Kuchentour durch Mitteldeutschland, das sind dann typische ›beste schlechte Texte‹. Wir packen in unsere jährlichen Top-10s (hier noch 2006, 2007) eben auch Artikel hinein, die wir für ungehbar halten, die aber symptomatisch für den Wahnsinn sind, für den wir das herrliche deutschsprachige Feuilleton so lieben.
Am 26. September 2008 um 13:54 Uhr
D’accord.
Am 26. September 2008 um 13:58 Uhr
Am Sonntag lief in 3sat der Literaturclub. Dort stellte Iris Radisch „Die Box“ vor und zwar schon vorauseilend mit Bedauern, allerdings fragend, warum man im Feuilleton dieses Grass-Bashing betreibt. Peter Hamm meinte daraufhin sinngemäss, das Buch sei so schlecht, dass sich noch nicht einmal ein Verriss lohne. (Ich schätze Hamm sehr, aber prinzipiell macht mich ein solcher Furor neugierig.)
Unabhängig davon, ob Grass nun den Nobelpreis bekommen hat oder nicht: man muss ein Buch ob seiner Schwächen und/oder Stärken rubrizieren dürfen. Ob jemand einen Nobelpreis bekommen hat oder nicht, darf dabei keine Rolle spielen. Ich fand damals die Entscheidung gut, richtig und habe mich gefreut.
Maiers Pseudorezension ist genau das, was hier anklang: In dem er sich „outet“, nichts von Grass gelesen zu haben, entfällt das honorige „aber die Blechtrommel…blabla“. Das „zieht“ nicht. Maier tut so, als sei er ein naiver Grass-Leser. Das ist natürlich – in Grenzen – eine Art Schmierentheater, denn selbst wenn man von Grass nicht belletristisches gelesen hat, so kennt man ihn als öffentliche Person. Dennoch nehme ich Maier (dessen Roman „Wäldchestag“ ich schätze, aber anderes eher weniger) seinen naiven Gestus ein Stück weit ab. Er verreisst ja auch das Buch nicht, sondern widmet sich seinem Erzählprinzip. (Letztlich flieht er vor einem Urteil.)
Die Idee, jemanden als „Rezensenten“ zu nehmen, der GAR KEINE Werkkenntnis hat, wäre als Ergänzung einer „richtigen“ Rezension angebracht. Als alleiniges „Statement“ einer Redaktion ist das – mit Verlaub – ärmlich. Warum nimmt DIE ZEIT denn keinen anderen „Nichtleser“? Weil es ihr doch auf Prominenz ankommt und nicht auf die Idee des naiven Lesers.
Am 27. September 2008 um 03:26 Uhr
ich habe diesen zeit-artikel immernoch hier herumliegen, weil er mir so gut gefallen hat. ich finde, dass der text klug aufgebaut ist und der stil war mir — da ich vorher noch nichts von maier gelesen hatte — im gedächtnis geblieben. er schien mir einfach, leicht und doch nicht hölzern. und ich hatte eine unglaubliche lust an der nüchternen, feinen provokation, die sich die erscheinung des authentischen gibt, dir mir persönlich aber auch glaubhaft ist.
da hier schon behauptet wird, es handele sich dabei um keine richtige rezension, will ich im gegenteil behaupten, dass maier exemplarisch mit der rezension eine rezension einlöst — oder eben implizit sein gar nicht anti-intellektuelles vorverständnis zur debatte stellt — ein verständnis, welches immerhin eine öffnung hin zur literatur bedeutet. insofern maier schreibt, er habe noch nichts von grass gelesen, dann ist diese vorgabe — selbst wenn oder gerade insofern es eine lüge ist, für welche ich es aber nicht halte — eine zugunsten des buches. es ist doch absolut wünschenswert, dass sich ein rezensent wenigstens mühe gibt, vorurteilsfrei zu lesen. es ist ja nicht so, dass der grass-kontext verschwiegen wird und auch auf das vorgänger-buch der „box“ wurde ordnungsgemäss und zur genüge verwiesen. meines erachtens wird die aufgestellte massgabe des vorurteilsfreien lesens und schreibens in der rezension dann auch konsequent eingelöst; die argumentation schien mir schlüssig zu sein, ehrlich — und den ohren tat es sehr wohl, dass auf eher generelle urteile und polemik verzichtet wurde. es könnte immerhin sein, dass maier nicht abgelehnt hat, über grass zu schreiben, weil er schlicht nicht vorhatte, ihn hinter dem deckmantel der naivität um so raffinierter eins reinzudrücken. insofern über maiers text literaturpolitisch getritten wird, könnte man ja zunächst auch versuchen, ihn beim geschriebenen wort zu nehmen, das er ja selbst wiederum vorgeblich nichts anderem verpflichtet.
Am 27. September 2008 um 10:27 Uhr
@sirenomele.
Das mag alles so sein; nur, es verfehlt meinen Punkt. Es ist mir mit meinem Einwand nicht darum zu tun, Maiers Rezension-als-solche anzugreifen – weshalb sollte ich? -, sondern um eine selbstdestruktive Verfaßtheit der Deutschen, die letztlich nichts als die inverse Spiegelung von Selbstheroisierung ist: negative Heroisierung. „Wenn wir nicht die Besten sind, sind wie wenigstens die Schlechtesten“: in d e m Sinn versucht man dann, „eigene“ Leistungen zu schmälern, zu denen auch solche gehören, mit denen man sich positiv identifizieren könnte. Wir wollen unsere Schuld. Punkt. Dazu gehört die Grass-Schelte, also die gegen einen deutschen Nobelpreisträger. Zur besonderen Perversion dieser Dynamik gehört, daß Grass selbst einer derjenigen ist, das zu betreiben. Seine absurde Selbstanklage wegen der Flakhelfer-Geschichte ist ein deutliches Beispiel: der erwachsene, alternde, vielleicht schon greise Mann attackiert sich selbst in seiner pubertierenden Verführbarkeit. Anstelle einfach zu sagen: „Herrje, ich war halt jung, naiv und verführt.“ Damit wäre die Sache für jeden erwachsenen Menschen, der Herzensbildung hat, aus der Welt gewesen.
Am 27. September 2008 um 11:52 Uhr
@ANH
das leuchtet ein. nimmt man ihre aussage aber ernst, hätte das für maier und jeden anderen rezensenten geheissen, dass er dieses buch (!) eigentlich nur hätte loben dürfen und alles andere negative heroisierung gewesen wäre, ein metakritisches patt. dass maier grass als „diesen autoren“ bezeichnet, finde ich ausgesprochen witzig und ein klarer, irgendwie tragigkomischer versuch, sich von solchen ansprüchen zu befreien, die nichts mit dem buch selber zu tun haben. ich glaube — ähnlich wie paco — dass maier gerade aufgrund vielerlei zusätzlicher ansprüche beim grass-lesen versucht hat, eine renzension-als-solche zu verfassen. dass er damit provoziert hat, liegt weniger an ihm und vielleicht auch nicht an grass, sondern eben an den zusätzlichen politischen, historischen u.a. ansprüchen, über die wir hier auch diskutieren. die renzension scheint mir bemüht sachlich zu sein und nicht per se destruktiv oder zumindest bemüht sie sich, es nicht zu sein. das hat letzlich für mich geheissen: unabhängig davon, dass grass sehr gute und wichtige bücher geschrieben hat, wieviel noch zu sagen wäre, wie ehrenwert er ist und wichtig für die geschichte, bei der „box“ handelt es sich nicht um seinen besten text, was im ganzen einen ausweg aus diesem patt darstellt. leserquoten sind damit bei grass, denke ich, sowieso kaum noch zu beeinflussen. der name hat, wie auch hier zu sehen ist, eine ganz autonome dynamik.
Am 27. September 2008 um 17:01 Uhr
@sirenomele
Herbsts Diktum heisst nicht, dass man per se Grass goutieren muss, „nur“ weil der Nobelpreisträger ist. Das wäre ja Unsinn. Was er moniert ist eine Art deutscher Selbsthass, der sich da exemplarisch an Grass austobt.
Diesen Gedanken hatte ich bei seinem Buch „Ein weites Feld“. Reich-Ranicki, von allen Kritikern der Infantilste, hat dieses Buch auf dem „Spiegel“-Titel zerrissen (was ihn als schlechten Kritiker-Schauspieler entlarvte). Das Buch war mit einer historischen These geschrieben, die hanebüchen war (und ist); literarisch fand ich es aber gelungen. Ich bin sicher, wenn es ein amerikanischer Schreibschulabsolvent geschrieben hätte, wäre es von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt worden. So haben die Kritiker-Lemminge auf den Verriss gewartet, um sich in diesem dann zu suhlen.
Und dann natürlich anlässlich seines „Zwiebel“-Buchs, welches viele als Abrechnung mit dem politischen Grass nutzten (selten bzw. eher gar nicht mit dem Schriftsteller Grass – man lese hier die Kritiken der „jüngeren“ Rezensenten, die allesamt literarisch-kritisch vorgingen und nicht gesinnungsästhetisch).
Maiers Text bzw. die Idee einen Nichtkenner des Grasschen Werkes dieses Buch besprechen zu lassen, kann man – bei wohlwollender Betrachtung – auch dahingehend deuten, sich von den Kämpfen der Vergangenheit zu „befreien“. Da aber Grass als öffentliche Person auch „umstritten“ ist, Maier Grass aber als öffentliche Person kennen wird, ist das schwierig. Obwohl sich Maier streng an eine Schilderung des Erzählprinzips des Grass-Buches hält (eine Rezension nenne ich das nicht).
Am 27. September 2008 um 17:50 Uhr
@ sirenomele: Denkwürdiger Stil und DIE exemplarische Rezension bei Maier? Alle Wetter, da haben wir wohl den Text völlig unterschiedlich gelesen. Eben wenn ich ihn beim geschriebenen Wort nehme, ist mir dieses zu dünn. Ich verstehe ja, daß man es als Vorteil sehen kann, wenn hier einmal ganz un- (oder verhüllt) polemisch über ein Buch Grassens geschrieben wird. Aber muss ich dann gleich auf jede Zuspitzung verzichten? – Darum möchte ich auch bezweifeln, wie man über Maiers Text denn politisch streiten könnte, allenfalls ästhetisch, und da sind, wie man sieht, Geschmäcker verschieden.
Eine andere Frage ist es wieder, was „vorurteilsfreies Lesen“ denn sei. Garantiert ein Grass-Neuling gleich weniger Ressentiments? Und gelte dies allgemein, die Feuilleton-Redaktionen müßten sich ja fieberhaft auf die Suche nach allerhand Kaspar Hausers machen, um die Qualität ihrer Literaturkritik zu verbessern! Oder braucht Kunst doch Kunstverstand, was für Literatur bedeutete, dass man solchen nicht durch Nicht-Lesen erwirbt?
Vielleicht trifft aber auch schlicht die Überlegung zu, dass Maiers Text einen schmalen (und nur mich wenig ansprechenden) Ausweg aus einem mit Zentern von Grass-laudationes, Grass-Kritik und Grass-Vorwissen beladenem Sprechen-über-Werke sucht. Darf’s ein wenig geistreicher sein?
Am 29. September 2008 um 00:08 Uhr
@keusching
ich spreche über metaüberlegungen und ansprüche, die maier eigentlich nicht betreffen. das drückt sich ganz exemplarisch auch in ANH’s hierher verlinkter einladung aus, über grass und die deutschen im allgemeinen zu diskutieren. das ist schon wieder eine reaktion bzw. eine fortspinnung der eingangs aufgestellten these, maier thematisiere implizit, was es heisst, grass zu lesen. maiers rezension ist nicht hasserfüllt und es klingt auch nicht büroktatisch rumgekrittelt. wenn aber jede negativ wertende kritik in ANH’s diktum dann tatsächlich negative heroisierung darstellen muss, dann ist das — ganzganz logisch gesehen — tatsächlich ein patt. natürlich ist das in gewisser weise auch logischer unsinn, da die sachen von sich aus nicht so eindimensional stehen. nur diente mir diese meine konstruktion dazu, zu verdeutlichen, in welcher situation jeder rezensent im vorhinein steckt und maier jetzt im nachhinein steckt: in ein allgemeineres oder sogar sachfremdes problem verstrickt zu sein, das eine rezension-an-sich über nur ein einziges neuerschienenes buch von grass doch behindert oder sogar verhindert. maiers rezension hält sich puristisch, was für grass eigentlich sogar wünschenswert ist. (mal abgesehen davon, dass man ihm hätte wünschen können, ein fan hätte geschrieben. aber eine solche rezension hätt ich höchstwahrscheinlich nicht zuende gelesen.)
@aikmaier
mit „politisch“ meine ich ganz emphatisch die haltung, die maier im text darstellt. man kann nun sagen, dass diese politik darin besteht, vordringlich unpolitisch zu sein. das ist zum einen sein gutes recht, denn er soll ja keinen text über das grasslesen im allgemeinen schreiben. zum anderen deutet es eine außergermanistische wirklichkeit — überhaupt den rahmen von wirklichkeit — an (auch der schlackelose stil), was ich begrüße. grass gehört tatsächlich schon zu einer anderen literatengeneration und außerdem ist es meiner meinung nach möglich, sich literarisch und geschmacklich verständig und kompetent zu äußern, ohne einen einzigen grass gelesen zu haben. jaja! wenn man in der schule drumherum gekommen ist, kommt man als germanist nicht drumherum. es gibt aber menschen, die haben probleme, interessen, bedürfnisse, die brennender noch sind, als den grass durchzuackern, wenn man doch gar keine lust dazu hat. vielleicht hat man dafür proust dreimal im ganzen gelesen.
sicherlich gibt es kein vorurteilsfreies lesen. es ist aber nicht nur die so bezeichnete unwissenheit, sondern auch die so bezeichnete beflissenheit des lesens, die sich mir bei maier bestätigt zu haben schien und die ihn relativ integer macht. das, was man dünn nennen kann, nenne ich zurückhaltung, die ich als eindeutige und konsequente „haltung“ überhaupt wahrnehme.
was ich in der haltung dann angesprochen fand und finde, ist, dass in einem komplexen, zeitgenössischen literarischen und außerliterarischen gefüge von wirklichkeit, wie sie sich einem gegenwärtig lebenden menschen darbietet, grass möglicherweise nur einen kleinen teil ausmacht — dass der stoff an sich gar nicht so heiss ist und mit stilistischen funken gegessen werden müsste.
Am 12. Oktober 2008 um 14:57 Uhr
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