Und noch ’ne Liste:
The 500 Greatest Movies Of All Time
Hamburg, 24. Oktober 2008, 12:50 | von San Andreas
Die neue »Empire« kommt mit 100 verschiedenen Covern in die Läden. Jeder möchte sein Lieblingsmotiv haben. Tumultartige Zustände. Ein Student mit Schlafsack hat sich »Citizen Kane« gesichert, während sich hinten zwei Mädchen um »Donnie Darko« prügeln. Ein Mittvierziger hält Jimmy Stewart und Cary Grant in den Händen und kann sich ums Verrecken nicht entscheiden.
Ein Teenager stopft das letzte »Dark Knight«-Exemplar in seine Schultasche, als einer mit Sonnenbrille »Dirty Dancing« aus dem Regal reißt – »Für meine Freundin«, wie er dem Mann mit der Aktentasche zuruft, der auch danach gegriffen hatte, sich nun aber mit »Amélie« zufrieden geben muss.
Eine ältere Dame schnappt sich »Fight Club« und zieht damit fragende Blicke auf sich, doch regelrechtes Entsetzen verursacht der Langhaarige mit dem Ikea-Beutel, der sich anschickt, sämtliche noch verbliebenen Exemplare zu packen und zur Kasse zu schleppen. Weit kommt er nicht, ein schmieriger Italiener fängt ihn ab und macht ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Der Mittvierziger eilt mit dem zur Waffe gerollten »Vertigo« zur Hilfe, doch der Langhaarige händigt dem Italiener bereits zähneknirschend den »Godfather« aus.
Das wichtigste Cover der ganzen Aktion, denn laut der »most ambitious movie poll ever attempted« stellt dieses Werk die schiere Krönung der Filmgeschichte dar. Nanu? Hatte den Platz nicht »Citizen Kane« abonniert? Wohl nicht nach Meinung der teilnehmenden 10.000 »Empire«-Leser sowie der 150 Hollywood-Schaffenden und 50 führenden Kritikern, die eingeladen worden waren, ihre persönlichen Top-10s in einen Topf zu schmeißen.
Zur Gewichtung der Stimmen findet sich keine Info, aber das Ergebnis zeigt, dass hier das filmbegeisterte Volk das Sagen hatte, weniger die Spezialisten und Kapazitäten. Die nämlich tendieren dazu, ehrfurchtgebietende, mit akademischer Reputation beladene Meilensteine an die Spitze zu wählen (siehe die aktuelle Liste des American Film Institute).
Wie das kommt, ist klar. Es geht um Image und Selbstdarstellung: Ein ehrwürdiges Gremium wie das AFI möchte öffentlich genau mit diesen Werken identifiziert werden. Individuelle Vorlieben treten hinter dieser Selbstverständigung zurück, das kollektive Bewusstsein diktiert eine gewisse Objektivierung: Famose Genrewerke mit womöglich gefährlich hohem Unterhaltungswert haben gegenüber zeitlosen, filmgeschichtlich verdienstvollen Filmereignissen das Nachsehen.
David Finchers Wahlzettel »Butch Cassidy« »8 1/2« »Chinatown« »All the President’s Men« »Dr. Strangelove« »Citizen Kane« »Days of Heaven« »Alien« »Paper Moon« »Rear Window« »Monty Python & The Holy Grail« »Being There« »Jaws« »Zelig« »American Graffiti«
Dagegen fördern anonyme, offene Abstimmungen in der breiten Masse ganz ohne Hintergedanken einfach mal die Lieblingsfilme der Leute zutage. Und »Citizen Kane«, diese »Kathedrale von Film« (»Empire«), kann man vergöttern wegen seiner handwerklichen Kühnheit, seiner thematischen Wucht, seiner dramaturgischen Perfektion – richtig lieben aber kann man ihn nicht.
So ist es auch nicht wirklich die Qualität, die von solche Umfragen gemessen wird – diese Kategorie ist auf ewig unscharf und subjektiv. Wer mag schon beurteilen, ob »Godfather« oder »Kane« der bessere Film sei; die »Empire«-Liste zeigt lediglich, dass Don Vito Corleone unter (vornehmlich britischen) Filmenthusiasten dieser Tage beliebter ist als Charles Foster Kane (Platz 28). Aus welchen Gründen auch immer.
Comedy »The Apartment« (12) »Dr. Strangelove« (26) »Some like it hot« (27) »Kind Hearts and Coronets« (42) »The Big Lebowski« (43) »This is Spinal Tap« (48) His Girl Friday (58) The King of Comedy (87)
Allein die Resonanz des Publikums kann helfen, die Qualität eines Films irgendwie greifbar zu machen. Man kann sich einen Teil dieses Publikums herausnehmen – die Kritiker – und auf deren objektiveres Urteilsvermögen hoffen. Finden viele Rezensenten einen Film ganz prima, dann schält sich aus dem Rauschen des Diskurses die gleichsam offizielle Auffassung heraus: »Dies ist ein guter Film.«
Wir alle wissen, das klappt nicht immer. Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, die Einbeziehung von Hinz und Kunz in die Erhebung würde ihre Aussagekraft weiter schmälern. Das Gegenteil ist der Fall: Nur so werden unliebsame Störfaktoren der Kritiker-Subkultur nivelliert. Noch besser ist es, wenn die Umfrage zeitlich nicht befristet ist, wie die IMDb-Top-250, dann verabschieden sich nämlich auf lange Sicht Modeerscheinungen und Zeitgeistfavouriten auf die hinteren Ränge.
Top 20 »The Godfather« (1) »Raiders of the Lost Ark« (2) »The Empire Strikes back« (3) »The Shawshank Redemption« (4) »Jaws« (5) »GoodFellas« (6) »Apocalypse Now« (7) »Singin’ in the Rain« (8) »Pulp Fiction« (9) »Fight Club« (10) »Raging Bull« (11) »The Apartment« (12) »Chinatown« (13) »Once Upon a Time in the West« (14) »The Dark Knight« (15) »2001: A Space Odyssey« (16) »Taxi Driver« (17) »Casablanca« (18) »The Godfather Part II« (19) »Blade Runner« (20)
Die Spitzenplätze belegen nun auf jeden Fall Werke, die prototypisch für das stehen, was in den Augen der Filmgemeinde ganz großes Kino ist. Diese Filme stellen die Essenz dessen dar, was die Filmkunst über die Jahre hervorgebracht hat, und dabei ist es nebensächlich, ob der Beurteilende darüber im Bilde ist, warum genau diese Filme so gut funktionieren.
Truffaut war oft daran gescheitert, Hitchcocks »The Lady Vanishes« filmanalytisch zu sezieren, weil er ein ums andere Mal in den Bann der Geschichte gezogen wurde. Hitchcock hatte eben den Dreh raus, Emotionen und Inhalte per Filmsprache zu vermitteln. Dass dieser Prozess so reibungslos funktioniert, macht den Film zu einem guten Film; wie er funktioniert, muss allenfalls Filmstudenten interessieren.
Statistik Knapp die Hälfte der Filme sind 25 Jahre oder älter. Der älteste Film stammt von 1924 (»Greed«, Platz 399), der neueste von 2008 (»Wall-E«, Platz 373). Die Liste enthält 24 Sequels. 14 Filme stammen von deutschen Regisseuren (Herzog, Lang, Lubitsch, von Donnersmarck, Reitz, Hirschbiegel, Murnau, Petersen, Wenders, Stroheim).
Nun gibt es viel mehr gute Filme als diese Liste fassen kann; manch einer mag etwa David Lynchs »Inland Empire« (keine Platzierung) für genauso gut oder besser halten wie »Raiders of the Lost Ark« (Platz 2). Doch für einen Listenplatz muss ein Film nicht nur gut sein, er muss auch wichtig sein. Er muss ein Eigenleben entwickeln, kulturell verhandelt werden, zitiert werden, über sich selbst hinauswachsen, er muss beeinflussen und inspirieren. Vor allem, er muss gesehen werden, erinnert werden, geliebt werden.
»Inland Empire« möchte gar nicht geliebt werden. Ein sehr spezieller Film ist das, und er ist sich seiner Unzugänglichkeit bewusst (wäre er das nicht, wäre er schlecht). Gerade deswegen greifen sich Individualisten den Film als Talisman, genießen das wohlige Gefühl, außerhalb der grauen Masse zu stehen, einen eigenen Geschmack zu besitzen. Bitteschön.
Doch das Gerede von Massentauglichkeit, Kommerz und Mainstream verfehlt oft genug den Kern. Dabei ist es so einfach: Gute Filme können erfolgreich sein, aber nicht alle erfolgreichen Filme sind gut. Tatsächlich ist Kino seinem Wesen nach nicht für Eliten gemacht. Film ist am besten, wenn er allen gefällt, so unglaublich das klingt. Denn wie kaum eine andere Kunst lebt er vom Zuspruch des Publikums, ja er ist darauf angewiesen, dass diese Interaktion funktioniert. Film muss gefallen, um zu überleben.
Regie Spielberg (11) Scorsese (8) Hitchcock (7) Kubrick (7) Burton (6) Kurosawa (6) Allen (6) Wilder (5) De Palma (5) Coen (5) Jackson (5) Coppola (5) Tarantino (5) Lynch (4) Lucas (4) Huston (4) Reiner (4) Zemeckis (4) Cameron (4) Raimi (4) Lumet (4) Nolan (4) Wyler (4) Linklater (4)
Schlimm ist das nicht. Dass es ein Film darauf anlegt, verstanden zu werden, heißt ja nicht, dass er sämtlichen zerebralen Ballast abwürfe und seinen Anspruch auf Kindergartenniveau drosselte. Er wird nur versuchen, formal an das Alltagserleben des Publikums anzuknüpfen, dessen Erfahrungen und Erwartungen einzubeziehen und, ausgehend von vertrauten Konzepten, eine interessante Geschichte zu erzählen, die mit Wirkungsmomenten nicht geizt.
Großes Kino ist keine introvertierte Nischenkunst. Und so ist die neue Liste kein zu belächelndes Konstrukt bemühter Ranking-Spielchen, sie ist ein Schnappschuss lebendiger Filmkultur. Leute lieben nun mal Listen, sie schaffen Überblick über ein weites Feld. Und regen an: Die »Empire«-Top-500 versammelt dann doch etliche ungesehene Juwelen, nicht bloß die üblichen Verdächtigen. Ach so, Moment: »The Usual Suspects«, Platz 61, also doch.