Journalistische Interpunktion:
Kleist-Sätze und Satz-Kleister
Konstanz, 22. November 2008, 10:01 | von Marcuccio
Ein seit jeher praktischer RSS-Feed ist ja der so genannte »Blick in die Zeitschriften«. Neulich (FAZ vom 4. 11.) blickte Thomas Gross da in die Zeitschrift »Deutsche Sprache«, seine Überschrift:
Lesernähe. Durch Brüche!
Das sogenannte »parataktische« Schreiben nimmt zu.
Ich als Aficionado aller Leser-Blatt-Bindungen natürlich sofort angeteast … Mein Leserbriefgedächtnis schlug ein paar Purzelbäume, und dann war er wieder da, der legendäre Leserbrief »zur Grammatik in der FAS« (26. 6. 2005):
»Es fällt mir unangenehm auf. Daß in mehr und mehr Artikeln. Auch Ihres Blattes. Keine korrekten Sätze. Stehen, mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Sondern Punkte. Regellos gesetzt werden. Ein Kniefall. Vor der Reklamesprache. Jetzt aber. Punkt!«
Keine Ahnung, ob Britt-Marie Schuster dieses formvollendete Traktat kannte. Auf jeden Fall hat sie – und darauf wies Gross‘ FAZ-Artikel hin – eben diese interessante Studie verfasst: Sie hat am Bsp. von »Spiegel«, »Zeit« & »stern« mal lingistisch untersucht, was Printjournalisten so alles anstellen, um Nebensätze zu vermeiden. Die gliedern ihre Sätze nämlich anders als früher, zum Beispiel so:
»Sie hat es geschafft, doch noch: Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland – die erste Frau, die nach oben durchgekommen ist.« (stern 48/2006, S. 29)
Die Interpunktion (»:«, »–«) übernimmt den Part, Satzteile zusammenzuhalten ohne sie syntaktisch unterzuordnen. Sie funktioniert also wie ein Nebensatz-Vermeidungsmechanismus, ein Satzkleister, der syntaktische Abhängigkeiten durch Gedankenstriche, Doppelpunkte usw. nivelliert. Für Gross haben die so instrumentalisierten Satzzeichen aber auch noch eine andere Wirkung:
»Sie rhythmisieren, heben etwas hervor, beziehen es auf ungewohnte Art auf andere Satzglieder und unterstützen den Dialog mit dem Leser, den der Text eröffnet.«
In diesem Sinne hat auch Gross alles richtig gemacht. Er eröffnete seinen FAZ-Beitrag nämlich gleich mal mit einem Zitat von Kleist (»Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«):
»Auf die Antwort der jungen Klosterschwester: ja! sie erinnere sich davon gehört zu haben, und es pflege seitdem, wenn man es nicht brauche, im Zimmer der hochwürdigsten Frau zu liegen: stand, lebhaft erschüttert, die Frau auf, und stellte sich, von mancherlei Gedanken durchkreuzt, vor den Pult.«
Und hier ist exzessive Interpunktion natürlich nichts anderes als jener Kunstgriff, der Kleists Prosa so herrlich dramatisiert. Mit ihrer Dynamisierung von Schriftsprache haben Kleist-Sätze und moderne Medientexte mehr gemeinsam als man gemeinhin denkt.
Am 22. November 2008 um 10:46 Uhr
Der übermäßige Einsatz von Doppelpunkten und Gedankenstrichen zeigt bei manchen Schreibern aber auch eine panische Angst vor dem Punkt. Als würde dieser ein Kapitel zum Abschluss bringen, als könnte der Leser keinen Zusammenhang mehr herstellen zwischen den Sätzen, die er trennt.
Am 25. November 2008 um 08:55 Uhr
[…] 6. “Journalistische Interpunktion” (umblaetterer.de, Marcuccio) “Kleist-Sätze und Satz-Kleister” […]
Am 25. November 2008 um 12:07 Uhr
Völlig richtig! „Lingistisch untersucht“ sollte Rechtschreibung werden. Aber auch. Oder so.
Am 25. November 2008 um 13:00 Uhr
hehe, sicher ein absichtlicher fähler, gedacht als hommage an don alphonso. oder so. auch. und. wobei. etc.