Voyage Voyage (Teil 3):
»Männer über fünfzig mit Digitalkameras«
Konstanz, 6. Dezember 2008, 09:48 | von Marcuccio
Arezu Weitholz: Die Tosca-Fraktion. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Juli 2007.
Durst im Reisejournalismus, das müssen nicht zwangsläufig pointenrülpsende Geschichten aus der Biertrinkerzone sein:
»Im Prospekt steht ein Zitat aus der Zeitung: ›Intimes Musizieren – ein Festival, das die durstige Seele erfrischt.‹ Das klingt gut«, denkt sich Arezu Weitholz und fliegt spontan von Berlin in die Toskana, zum so genannten Tuscan Sun Festival von Cortona.
Erste Zweifel kommen unterwegs: »Kann eine Seele überhaupt Durst haben?« Egal.
Vor Ort dann noch mehr Irritierendes: Name und künstlerische Leitung des Tuscan Sun Festival stellt die US-Amerikanerin Frances Mayes, die Cortona schon mit dem gleichnamigen Buch und Film ›beglückt‹ hat.
Ein Festival wie ein Amazon-Algorithmus
Leute, die »Under the Tuscan Sun« gesehen/gelesen und darüber hinaus Bücher gekauft haben, die »Cappuccino zu dritt« oder »How I discovered my inner Italian« heißen – diese Leute mögen sicher nicht nur die Toskana, sondern auch Tosca (zumal das so schön toskanisch klingt), Anna Netrebko, Joshua Bell, Lang Lang usw. Warum also nicht Weinproben, Wellness und Klassik-Konzerte zu einem Paket schnüren? Warum Toskana- und Tosca-Fraktion nicht vereinigen?
Doch bevor Arezu Weitholz realisiert, in welcher Zielgruppenfusion sie da gelandet ist, kommt es schon zum Showdown in Cortona:
»Acht Uhr abends vor dem Konzertsaal. Viele Leute wirken, als kämen sie aus Baden-Baden. Oder einer Folge vom ›Traumschiff‹, kurz vorm Abendessen. Frauen mit schimmernden Lappen um die Schultern. Männer über fünfzig mit Digitalkameras. Eine Frau, die aussieht wie Nancy Reagan, kommt vom Klo.«
Kopfkino vom Feinsten!
Der Artikel hat einen Trick, mit dem Arezu Weitholz die ganze Tuscan-Sun-Szenerie vorführt. Sie sagt nämlich kein einziges Mal »ich«, sondern hält während ihres ganzen Artikels die Wellness verheißende Anrede des Festival-Prospekts durch: Die versprach, die »durstige Seele« zu erquicken. Nur: Für die meisten Festivalbesucher scheint Klassik eher das Gegenteil von Wellness zu sein:
»Alle werfen einander ernste Blicke zu. Sie haben sicher Angst vor der Musik, denkt die Seele. Als Joshua Bell zehn Minuten später die Bühne betritt, lächelt er. Dann spielt er, und sofort schließt die Seele ihre Augen und freut sich: Endlich. Doch nein. Jemand knipst. Es macht plötzlich ›ksst‹. Dann noch mal ›krscht‹. Vom Rang ein ›Pling‹. Es sind die Männer mit ihren Kameras.«
Und die Szene ist noch nicht zu Ende:
»In der Mitte vom letzten Stück (Prokofjew) reißt Bell die Bogensaite. Er zieht sie mit einer Hand sekundenschnell weg, die Männer knipsen jetzt erst recht, ›pling‹, Bell spielt unbeirrt weiter, ›Kssrt‹, doch dann unterbricht er, jetzt ist ihm auch noch der Geduldsfaden gerissen, er bittet das Publikum um Stille: ›Bitte!‹ Dafür gibt es Applaus. Er beginnt von vorn, nun sind alle leise. Am Ende bekommen er und der Pianist weiße Blumen. Die Seele hat noch immer Durst.«
So wird die Kitsch-Ansprache aus dem Prospekt zum Running Gag, und Arezu Weitholz gelingen ein paar schöne Notate über den Klassiker: die Dissonanz zwischen Katalog und Wirklichkeit beim Reisen.