Der Eisenbahner Christian Kracht
Konstanz, 11. Dezember 2008, 18:00 | von MarcuccioIch kann es ja immer noch nicht glauben, aber angeblich macht die nächste Nummer der Zeitschrift »Loki« mit Christian Kracht auf. Irgend so ein Freak von den Schweizer Modellbahnfreunden scheint nämlich Krachts letzten Roman nachgebaut zu haben. Also die ganze Kulisse der Schweizerischen Sowjet-Republik (S.S.R.), mit Neu-Bern, Meiringen, beleuchtetem Réduit, e tutti quanti. Im selben Zusammenhang war irgendwo auch die Rede von einer Kracht-Lesung in der SWR-Sendung »Eisenbahn-Romantik«.
Also: Ist Kracht, unser Christian Kracht, in Wahrheit ein Fetisch-Künstler für die Szene? Haben wir da irgendwas verpasst? Der Umblätterer hat einmal nachgecheckt, was an den Gerüchten dran ist und wer denn da wie auf seine Kosten kommt:
Kracht für –
– Modellbahnbauer
– Streckenwärter
– Bergbahnfahrer
– Eisenbahn-Ethnografen
– Anschlussreisende
Kracht für Modellbahnbauer
Man kann sagen, was man will, aber »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist durch und durch eisenbahnsemantisch codiert. Schon die Ausgangskonstellation: »Stell dir vor, Lenin hätte den Zug verpasst …« Und gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass Kracht hier nicht einfach eine Gegenwelt, sondern ein Modellbau-Spektakel par excellence zelebriert:
»Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse, erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie.« (S. 13)
Spielt da einer Hitchcock im H0-Maßstab? Auch später im Buch wirken die Häuser immer so, als ob »die jemand dort hingeschoben oder -gezogen hatte«. Und interessanterweise baut die S.S.R. nicht aus Glas & Stahl, sondern aus »Glas & Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen« (S. 26).
Schließlich wird klar, dass das hier alles Teil einer großen Vision für große Jungs ist, die sich zum Spielen am liebsten in ihren Hobbykeller (vulgo: Réduit) zurückziehen.
»Über den neuen Ring, Eidgenosse, (…) wird eine silberne Schienenbahn fahren, rund um die Uhr. Und am Steuer werden unsere zuverlässigen Bruder-Freunde sitzen, sie werden jedem Fahrgast salutieren.« (S. 27)
Salutierende Bruder-Freunde am Steuer? Schaut ganz so, als ob auch Krachts Modellbahnwelt den Beresina-Alarm kennt. Wie überhaupt so manche Elemente aus dem Film »Beresina oder die letzten Tage der Schweiz« die S.S.R.-Deko stellen: Sowohl die Wegzeiten-Beschilderung aus dem Réduit-Stollen wie auch die Jagdhütte hat Kracht – Modellbahnerehre! – filigran eingearbeitet. Vielleicht hätten sich Scheck und Kracht neulich – statt in einer Kaverne der Kölner Kanalisation – also auch gut unter den Kulissen des Hamburger MiWuLa gemacht.
Kracht für Streckenwärter
Schon »Faserland« war – trotz HaFraBa – ganz schön eisenbahnig. Und zwar nicht nur in Form des berühmt-berüchtigten Bord-Bistros, an das jetzt alle denken, mit Recht denken. Da war vor allem auch das Ding mit der Eisenbahn-Hochbrücke, von der die Exkremente runterplumpsen, weil die Zugklos ja früher wirklich offen auf die Strecke entleerten. Was das für darunterliegende Häuser und Gärten bedeutet hat, lässt dieser YouTube-Clip erahnen.
Jedenfalls: Die Fahrt von Sylt nach Hamburg verbringt der Ich-Erzähler weitgehend auf der Zugtoilette, und da fällt ihm ein, mal gelesen zu haben, »daß sich irgendwelche Menschen bei Kassel immer beschwert haben, wenn der Zug über eine hohe Eisenbahnbrücke fuhr«. Klar: Exkremente, eklig, Beuys, Kassel – die Assoziationskette passt. Aber, liebe Eisenbahnfreunde, noch mal zum Mitschreiben: Da rattert der »Faserland«-Erzähler zwar hinter »Blindglas« (Kracht, der alte Fuchs!), aber doch wohl mit der Marschbahn über den Nord-Ostsee-Kanal und faselt was von irgendeiner hohen Eisenbahnbrücke bei Kassel!? Für einen Hagen von Ortloff muss diese Form von Streckenblindheit die gleiche »parsifalhafte Unwissenheit« haben wie für Martin Hielscher die Tatsache, dass der »Faserland«-Held Walther von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux als mittelalterliche Maler bezeichnet.
(Vgl. Martin Hielscher: Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Johannes Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg: Aschenbeck & Isensee 2004, S. 105.)
Kracht für Bergbahnfahrer
Eisenbahnsemantisch legt Krachts S.S.R. im Vergleich zu »Faserland« noch mal deutlich eins drauf, und zwar nicht nur wegen der »Kaliber-52-Krupp-Schienengeschütze« (S. 105). Das ganze Réduit ist im Grunde nichts anderes als eine bombastische Bahnanlage, »hunderttausend Werst unterirdische Schienen (…), soviel wie zweimal um den gesamten Erdball« (S. 60).
Es sind, notabene, auch nicht irgendwelche Schienen im Réduit verlegt, sondern »die Schienenstränge einer Schmalspurbahn« (S. 100). Man fährt auf »Loren« durch lange Stollen und »mit eisernen Fahrstühlen, die wie Käfige an Stahlseilen befestigt waren, tiefe Schächte hinab« (S. 104).
Die Lieblingsszene aller Bergbahnfahrer ist natürlich die, wo der Aufzug steckenbleibt und ein junger Soldat (»es war ein Welscher«) so dermaßen Schiss hat, dass er dem schwarzen Kommissär blaue Flecken in den Arm kneift. Dass Welsche in dem Buch Rassisten sind, die ihrerseits dem Rassismus der Deutschschweizer ausgesetzt sind (»Die Welschen waren einfach nicht zu erziehen!«), ist eine Nebenstrecke des Romans und natürlich mal wieder Kracht, krachtiger geht’s nicht. Dass sich in steckengebliebenen Aufzügen zeigt, was ein echter Schweizer ist, findet wie Kracht übrigens auch Sibylle Berg, weswegen ihr NZZ-Text »In der Standseilbahn« ein ganz wunderbarer Stellenkommentar zu dieser Szene ist.
Kracht für Eisenbahn-Ethnografen
Wie jede Fantasy spiegelt sich auch Krachts S.S.R. auf Schienen an Vorbildern aus der Wirklichkeit. NEAT-Feeling weht durch die »pneumatischen Tunnelbahnen, gigantische, sich in der von knisternder Elekrizität erhellten Dunkelheit kreuzende Netze. Von Basel bis Mailand in nur sieben Stunden.« (S. 27).
Zum zivilisatorischen Netz, das die Schweizer »mit manischer Effizienz« über Ostafrika legen, gehören neben – natürlich! – Eisenbahnstrecken (S. 76f.) auch »Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütet, endlich zu gewinnen«.
Auf alle möglichen literarischen Matritzen des neuen Kracht-Buchs wurden und werden wir ja aufmerksam gemacht. Aber kein Hinweis, nirgends, auf Isolde Schaads »Knowhow am Kilimandscharo«. Wenn Krachts »Oktoberhaut« kein Pendant zu Schaads »Fitness-Bräune« ist, dann weiß ich auch nicht. Warum reagieren die Schweizer überhaupt so diskret auf das Buch? Oder nimmt man Kracht-Interviews (»Keine Satire«) neuerdings ernst?
Kracht für Anschlussreisende
Einen seiner Höhepunkte nimmt das Kracht’sche Eisenbahnepos, als sich der afrikanische Ich-Erzähler an die wohl wichtigste Station seiner Ausbildung erinnert: eine Manöverübung, »die uns nicht nur die Wetterverhältnisse in der Schweiz simulieren, sondern auch die Metaphysik unseres neuen Vaterlandes näherbringen sollte« (S. 61f.).
Es geht zum Kilimandscharo. Aber wie! Jeder, der schon mal (once in a lifetime!) den Klassiker aufs Jungfraujoch gefahren ist (also: mit dem ICE bis Interlaken, der BOB bis Wengen, der Wengernalpbahn bis zur Kleinen Scheidegg und von dort mit der Jungfraubahn), versteht, warum Kracht die Episode so und nicht anders schildert:
»Wir bestiegen für den ersten Teil der Strecke einen Zug (…).«
Dann ist Umsteigen angesagt:
»Aus den offenen Waggons des Eisenbahnzugs ausgeladen, hatten wir kaum am Rand der Gleise unter der afrikanischen Sonne ein wenig rasten können, als ein junger schweizerischer Korporal uns schon zu einem Nebengleis führte, auf dem eine Draisine stand. Hinauf!«
Kürzeste Umsteigezeiten und immer perfekter Anschluss. Ein Swiss Travel System wie es im Buche steht. Der immer näher rückende Gipfel des Kilimandscharo dient dann unter anderem dazu, schon mal so Dinge wie das Alpenglühen aushalten zu lernen. Dann ist Endstation in Schweizerisch-Afrika: »Die Draisine wurde am Bahnhof von Moschi ordentlich auf ein Abstellgleis gefahren«, und wo es helvetisch zugeht, darf eben auch dieses Ritual bahnpostlicher Infrastruktur nicht fehlen: »wir meldeten uns alsbald beim Stationskommandanten, lieferten den mitgebrachten Postsack aus dem Nyasaland ab«.
Fantastisch! Also, ich würde mal sagen, mehr Persiflage auf die Choreografie der Schweiz geht gar nicht.
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