Die Handschellen-Odyssee:
Leo Perutz: »Zwischen neun und neun«
London, 27. Januar 2009, 12:34 | von Dique
Studenten sind oft begnadete Nebenfiguren, etwa Øien in Hamsuns »Mysterien« oder Charousek in Meyrinks »Golem«. In Leo Perutz’ Roman »Zwischen neun und neun« (1918) begegnen wir dem Studenten Stanislaus Demba dann aber in einer Hauptrolle. Es ist ein Wien-Roman, die Geschichte um ein kleines Verbrechen.
Vor drei Jahren hat Demba drei Bände aus der Bibliothek mitgehen lassen und beginnt diese nun in Geldnot an einen Trödler zu verscherbeln. Beim letzten Band, dem wertvollsten, riecht der Ankäufer Lunte und ruft die Polizei. Demba wird gestellt und kann dann zwar fliehen, ist dabei allerdings immer noch in Handschellen gekettet, bekommt diese in den kommenden 12 Stunden (zwischen neun und neun) auch nicht ab und streicht mit diesem misslichen Handicap durch die Stadt.
Dummerweise ist ihm gerade die Freundin ausgespannt worden, welche am folgenden Tag mit ihrem neuen Verehrer eine Reise nach Venedig antreten wird. Demba will sich nun selbst Geld besorgen, um im letzten Moment vielleicht doch noch an der Seite seiner Ex in die Lagunenstadt fahren zu können, und so beginnt seine mehrstündige Handschellen-Odyssee.
Aus diesem Roman sollte ursprünglich eine 12-teilige Serie entstehen, die den Namen »12« trägt und in 12 Episoden jeweils genau eine Stunde dieser Zeitspanne in Echtzeit nachzeichnet. Aber dann hatte niemand diese Idee. Umgesetzt wurde sie erst Jahrzehnte später in der Actionserie »24«.
Die weltweite Perutz-Rezeption wird außer bei Borges u. a. auch in den Filmen von Hitchcock sichtbar. Er insinuiert im Gespräch mit Truffaut jedenfalls, dass die Handschellen-Szene in »The Lodger« auf der Perutz-Vorlage basiert.
Aber mir geht es weniger um die Inhalte und die Aufnahme des Buchs, sondern um den Charakter Stanislaus Demba, besonders im Vergleich zu anderen Studententypen. Anders als die oben genannten ist Demba ein unfreundlicher, aufbrausender Choleriker voll spöttischer Menschenverachtung, dabei allerdings bizarr komisch und einfach sehr sympathisch in seiner Antiheldenrolle.
Da beschreibt er doch seinen Rivalen Georg Weiner im Streit um seine Geliebte, welche ihn eigentlich schon verlassen hat, herablassend, im Gespräch mit einer Freundin, wie folgt:
»Dieser Mandrill hat doch eigentlich einen ganz menschenähnlichen Gang. Weißt du, nicht aus Gehässigkeit, sondern ich war wirklich erstaunt, dass er so gut aufrecht gehen konnte, und dachte mir, das muss ihm doch große Mühe machen, warum plagt er sich so und geht nicht einfach auf allen vieren?«
Außerdem ist sein äffisch wirkender Kontrahent ein Mensch, der kein Kinn hat, und Demba hat das gleiche an dem Trödler beobachtet, welcher ihn dann an die Polizei ausliefern wird, und entwickelt die folgende Theorie über die Kinnlosen:
»Manchen Menschen fehlt das Kinn. Das Gesicht geht unter dem Mund gleich in den Hals über. Sie sehen aus wie Hühner. Auch der Weiner gehört zu diesen Menschen. Sie tragen entweder Vollbart, dann sieht man es weniger, oder, wenn sie glattrasiert sind, dann sehen sie stupid aus. Ich glaube, das ist ein Atavismus. Zwischen der zweiten und der dritten Eiszeit sollen die Menschen so ausgesehen haben. – Nein, das ist kein Witz, ich hab’ das wirklich einmal in einem Aufsatz über den prähistorischen Menschen gelesen. Mir sind Leute ohne Kinn zuwider. Und wie ich den Alten anschau’, kommt mir der verrückte Gedanke, dass vielleicht ein Geheimbund aller dieser Kinnlosen besteht gegen die übrige Welt, dass sie zusammenstehen, und dass vielleicht der alte Trödler mit dem Georg Weiner im Einverständnis ist und mir nur eine Bagatelle für das Buch zahlen wird, damit ich nicht mit der Sonja nach Italien fahren kann.«
Die 12 Stunden mit dem handgeschellten Stanislaus Demba sind jedenfalls wahre Freuden. Aber die 24, welche ich letzthin an die erste Staffel der gleichnamigen Serie verschwendet habe, waren auch nicht zu verachten.
Am 27. Januar 2009 um 16:33 Uhr
Was für ein schöner Beitrag zum Darwin-Jahr. Nun wird es nur noch Zeit für (Pacos?) Standardwerk über „Die Entstehung der (Serien-)Arten“…
Am 28. Januar 2009 um 09:25 Uhr
Mir scheint’s, da liest sich jemand durchs Perutz’sche Ouevre! Schön zu hören! Weiter so…
Am 28. Januar 2009 um 11:11 Uhr
@fabe
Den schwedischen Reiter las ich auch gleich nach deinem letzten Kommentar, ohne Unterbrechung, nur einmal lies ich die Pfanne schwitzen und habe dann mit Pumpernickel, dem besten Stück von der Gans und einem Krug Magdeburger Bier banquettiert.
Am 28. Januar 2009 um 13:20 Uhr
Vorschlag für einen nächsten Teil: Ein Vergleich von Leo Perutz‘ Nachts unter der steinernen Brücke mit dem neuen Kehlmann! Da geht was… Oder halt, den schreib ich selbst!
Am 28. Januar 2009 um 13:32 Uhr
Das schwirrte mir auch schon im Kopf herum, als Kehlmann neulich in einem Interview mit der Welt das Perutz Buch als Vergleich anführte. Wir können uns ja einen kleinen Text-Wettstreit liefern, hehe.
Am 28. Januar 2009 um 15:31 Uhr
Topp!
Am 29. Januar 2009 um 12:22 Uhr
[…] Aber es gibt ja den »Umblätterer«, der auch immer wieder auf Literatur zu sprechen kommt und vorgestern über Leo Perutz schrieb. Nie gehört, schon gar nicht gelesen. Aber nach der obigen Textpassage zu urteilen, muss ich […]