Dissertationen von Feuilletonisten (Teil 1):
Peter Richter über den Plattenbau
Paris, 27. Februar 2009, 10:56 | von Paco
Ich habe jetzt endlich mal die hochinteressante 2006er Dissertation des FAS-Schriftstellers Peter Richter zuende gelesen:
»Der Plattenbau als Krisengebiet. Die architektonische und politische Transformation industriell errichteter Wohngebäude aus der DDR am Beispiel der Stadt Leinefelde«
Es geht im weitesten Sinne um Kunstgeschichte, Richter nimmt sich mit dem DDR-Plattenbau und seiner Behandlung nach der Wiedervereinigung ein Richter-typisches Thema vor. Vielleicht kam ihm im Zuge der medialen Berichterstattung über die preisgekrönte Umgestaltung von Leinefelde-Süd die Idee zu der Arbeit. Sie liest sich jedenfalls trotz Times New Roman mit 12 pt und 1,5er Zeilenabstand gut weg.
Die Arbeit liegt als PDF komplett auf dem Server der SUB, inkl. Abbildungen, aber man sollte sowieso lieber gleich selbst mal nach Leinefelde fahren, schon der Kritiker Kaye Geipel hatte 2001 überschwänglich ausgerufen: »Architekten, kommt nach Leinefelde und seht euch diese Sanierung an.« Und außerdem liegt die Stadt direkt an der Kulturautobahn A38.
Im allgemeinen Teil (zwei Drittel der Arbeit) beginnt Richter mit einer kleinen Kulturgeschichte des industriellen Wohnungsbaus, im speziellen des Plattenbaus in Deutschland seit den 1920er Jahren (Martin Wagner, Ernst May). Insofern macht die von ihm erwähnte Deutung der DDR-Plattenbauten als »Exzess der Moderne« (S. 7) auch Sinn.
Nach kurzen Abschnitten über Entwicklungen im NS (Ernst Neuferts »Hausbaumaschine«) und der Bundesrepublik folgt ein genauer Abriss der Geschichte der Plattenbauweise in der DDR seit den 1950er Jahren, in der auch die zeitgenössischen Diskussionen (etwa die Monotonie-Debatte) mit abgebildet werden. Die DDR-Neubauten und ihre Anordnung zu Großsiedlungen sollte die Heranbildung der sozialistischen Gesellschaft forcieren und repräsentieren, und damit war es dann 1989 vorbei und die Stigmatisierung begann, die Richter mit sehr schönen Zitaten nachzeichnet (S. 62-74).
Ebenso lesenswert ist das darauf folgende Kapitel über die nach 1990 einsetzenden, sich teils widersprechenden staatlichen Aufwertungsmaßnahmen. Viele Häuser sollten damals etwa im Schnellschussverfahren »durch esoterische Farbmanöver« (S. 189) individualisiert werden. Nach dem für einige vielleicht überraschenden Kapitel »Plattenbau und Denkmalschutz« und dem Einbezug der Arbeit in die Diskussion um die »shrinking cities« bringt Richter einige Beispiele für die Auseinandersetzung der bildenden Kunst mit dem Thema Plattenbauten, etwa Erik Schmidts crossmediale Inszenierung seiner Berliner Plattenbauwohnung am Platz der Vereinten Nationen. Auch sehr gut ist der Hinweis auf das Plattenbau-Quartett von Cornelius Mangold.
Im letzten Drittel widmet sich Richter dann dem Umbau von Leinefelde im nördlichen Thüringen. In der Stadt wurde ab 1961 eine große Baumwollspinnerei installiert, die dafür nachkommenden Arbeiter sollten in Plattenbauten untergebracht werden. So wurde südlich der Altstadt Neubau um Neubau hochgezogen, die Einwohnerzahl der Stadt wuchs bis zur Wende von ca. 2.500 auf über 16.500 an. 90 Prozent der Bevölkerung wohnte in Plattenbauten. Nach dem üblichen Hin und Her der Nachwendejahre lag 1995 ein städtebaulicher Rahmenplan vor. Zu seiner Umsetzung gab es im Jahr darauf einen Architekturwettbewerb, der nach Lösungsvorschlägen für das Physikerquartier und das Dichterviertel verlangte. Am Ende wurden zwei Architekten ausgewählt: Stefan Forster fielen die Dichter zu, Muck Petzet die Physiker.
Die erfolgreiche Umgestaltung von Leinefelde wurde nicht ohne Grund mit Preisen überhäuft, und so fallen Richters detailreiche Beschreibungen vor allem von Petzets Arbeit dann auch fast schwärmerisch aus. Dass Forster und Petzet äußerst gegensätzliche Ansätze haben (Rückbezug auf die Gartenstadt bzw. auf die »sozialistischeren Traditionen der Moderne«), interpretiert Richter dann gegen Ende seiner Dissertation als Vorteil. Beide Architekten haben einen Antagonismus geschaffen, »der den Stadtumbau von Leinefelde als Möglichkeitsraum ausreizt und den Ort geradezu im Sinne einer Bauausstellung zur Modellstadt macht«.
Soweit zum Inhalt, also absolute Empfehlung für ein paar Nachmittagsstunden.
Am 27. Februar 2009 um 14:23 Uhr
Ja, großartig. Ich danke sehr für den Hinweis.
Am 27. Februar 2009 um 17:04 Uhr
Was regelmäßig im Öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs untergeht, und was auch Richter nur am Rande abzudecken wusste: Mit der Weiterentwicklung der WBS 70 mit der Geschoßhöhe 2,80 m zur WBS 70/G (G = Gesellschaftsbau) mit einer Geschoßhöhe von 3,30 m wurde die WBS 70/G in Verbindung mit Spannbetonhohlraumdecken von 7,20 m Länge für den Schulbau und später auch bei anderen Bauten, insbesondere bei Funktionsunterlagerungen angewendet.
Am 2. März 2009 um 22:37 Uhr
Eine sehr schöne Idee, die ganz gewiss irgendwann in den Sachkatalog eingehen wird. An dieser Stelle schon mal ein Fleiß-Bienchen von mir.