Mit Pierre Bourdieu in Algerien

Konstanz, 2. März 2009, 14:10 | von Marcuccio

Oben Kaschmir, unten Sneakers: Die aparte Französin (gewiss keine Kolonialherrin) hat sich ein wenig in Rage geredet. Aus ihrer unverdächtigen Wortmeldung entwickelt sich gerade eine kleine (aber ob ihres Akzents doch noch gern gehörte) Suada: Warum der französische Kolonialismus in Afrika besser gewesen sei als der britische (ihr Sohn zur Zeit in Kenia) usw. usf.

Doch so harsch wie Madame jetzt von einer Hiesigen auf gut alemannisch gestoppt wird: »Entschuldigung, wir sind nicht wegen IHREM Vortrag hier, wir würden gern weiter dem jungen Mann zuhören.« Der junge Mann, das sehen wir ihm an, sortiert gerade im Kopf, was aus dieser Szene zum Thema Habitus zu sortieren ist. Und wir halten fest:

Pierre Bourdieus Algerien-Fotos in Konstanz – da begegnen sich sozusagen gleich zwei französische Ex-Besatzungszonen auf einmal.

Images d’Algerie. Une affinité élective

Bourdieus fotografische Feldforschung zeigt Zeugnisse der Entwurzelung: Was im alten Europa über Jahrhunderte, Generationen und Epochen Zeit hatte – im Algerien des Algerienkriegs geschieht es irgendwie alles gleichzeitig und gleichzeitig nicht. Zivilisatorischer Zeitraffer.

Die Bilder (allesamt um 1960) dokumentieren aber auch den Blick eines Wissenschaftlers, der während seiner Algerien-Jahre als Soldat, später Dozent ein persönliches Re-Modeling durchmacht: vom Philosophen zum Ethnologen zum Soziologen. Mein Lieblingsobjekt der Fotoserie deshalb die Straßenecke in Blida. Bourdieu hat sich einfach mal neben das Café d’Orient gestellt und ein paar Stunden lang feine Unterschiede geknipst. Von »Totalverhüllung« über »oben Bettlaken, unten nackte Beine« bis »Kopftuch – was ist das?« alles dabei. Auch bei den Mannen: Vom in der Work-Life-Ballance des Westens sichtlich verlorenen Kabylen bis zum zukünftigen Vater eines Zinedine Zidane alles dabei.

References:
taz (Patrick Eiden)
Auswahl der Bilder bei camera-austria.at [PDF]

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