Das JDD und die FAS vom 8. 3. 2009:
Entrümpelungsaktion in Sachen Kanon
Paris, 8. März 2009, 18:38 | von Paco
Die Sonntagszeitung »Journal du Dimanche« erscheint seit heute (bzw. dann eben gestern) schon am Samstagmittag mit einer »Première Édition«, um die potenzielle JDD-Lesezeit am Wochenende zu erhöhen (cf. Nouvel Obs).
In der heutigen regulären Ausgabe wurde dann schon berichtet, wie gestern ein paar jeunes femmes in signalroter Kleidung und im Style von Jean Seberg aus Godards »À bout de souffle« die Samstagsversion der Sonntagszeitung abgesetzt haben, nach eigenen Angaben landesweit 50.000 Stück.
Das wäre doch auch eine Idee für die FAS. Wenn sie bereits Samstagmittag erschiene (also nur Stunden nach der Samstags-FAZ), könnte man den gesamten »Sport«-Teil mit den noch nicht stattgefunden habenden Bundesliga-Spielen in zusätzliche Hardcore-Feuilleton-Seiten umwidmen, hehe.
Ansonsten hatte das Journal du Dimanche mit dem ersten Rachida-Dati-Interview nach ihrer geheimnisumwitterten Schwangerschaft so eine Art Scoop (S. 2 u. 3), passend zum Frauentag. Sonst ist das JDD natürlich kein Vergleich zur FAS. In der Kulturabteilung geht es fast nur um Kinofilme, auf der Seite mit den Rezensionen wird dann noch Lanzmanns Autobio besprochen (»Le Lièvre de Patagonie«, Gallimard).
Daher schnell weiter zur FAS, deren Feuilleton diesmal mit 17 absichtsvollen Verrissen von weltliterarischen Klassikern munitioniert ist, laut Vorwort eine Entrümpelungsaktion in Sachen Kanon. Keine einzige Neuerscheinung anlässlich der bevorstehenden Buchmesse wird besprochen, und auch wenn die Messespezialfeuilletons nicht immer wirklich gut sind (siehe »Der 18. März 2007 und seine Folgen«), dieses hier ist Spitzenklasse.
Untenstehend nun sozusagen die Regestausgabe aller 17 Verrisse. Das Défilé der 17 Autoren ergibt auch gleichzeitig eine brauchbare Dramatis personae des FAS-Feuilletons:
Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos
»ein Text für Typen, die die heroische Pose brauchen« (Nils Minkmar)
Bernhard Schlink: Der Vorleser
»Ein Buch wie eine Kotztüte. Man weiß, was kommt.« (Patrick Bahners, kompletter Text)
Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit
»dieser Amazonas von Vornamen und Nachnamen und Rängen« (Tobias Rüther)
Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür
»das alles hat etwas von einem ganz frühen Drehbuch der ›Nackten Kanone‹« (Volker Weidermann)
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise
»›Nathan‹ ist zu viel des Guten« (Hans Ulrich Gumbrecht)
Vladimir Nabokov: Lolita
»Halt die Klappe, Humbert Humbert!« (Claudius Seidl)
Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden / Wolf Jobst Siedler: Die gemordete Stadt
zu Mitscherlich: »das Problem an Mitscherlichs Buch (sind) seine Anhänger« / zu Siedler: »nur eine Klage, dass man Betontürme baute, wo einmal Villen standen« (Niklas Maak)
Heinrich Mann: Die Jugend + Die Vollendung des Königs Henri Quatre
»überall sprießen Gräten aus der Konstruktion, spreizen sich wichtigtuerisch die gleichen künstlich verknappten Drechselsätze« (Eleonore Büning)
Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart
»dreihundert Seiten fadester Eskapismus« (Dirk Schümer)
Thomas Mann: Wälsungenblut
»Warum nicht gleich Peter Hacks lesen? Warum nicht lieber ›Lost‹ gucken?« (Maxim Biller)
Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
»vertraute ethische Formeln, die jedoch … naiv erscheinen müssen« (Henning Ritter)
James Joyce: Dubliner
»Geschichten wie eine sechsspurig ausgebaute Autobahn, auf der plötzlich der Asphalt endet.« (Anne Zielke)
Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
»Figuren, die mehr schrullig als lebendig gezeichnet sind und die man kaum anzuhusten wagt, aus Angst, diese Pappkameraden könnten hintüberkippen« (Tilman Spreckelsen)
Hermann Hesse: Steppenwolf
»gehört zu den sicher humorlosesten Büchern der Literaturgeschichte. Gerade da, wo es vom Lachen handelt. Und nicht mal das ist ein Witz.« (Julia Encke, kompletter Text)
Aldous Huxley: Schöne neue Welt
»abstoßend uninteressante Selbstfindung (eines) eindimensionalen Grübelspießers« (Dietmar Dath)
Elias Canetti: Die Blendung
»ein von sich selbst besoffenes, von seiner eigenen grenzenlosen Misanthropie berauschtes Romanmonstrum« (Andreas Kilb)
Tom Wolfe: Fegefeuer der Eitelkeiten
»Realismus allein ergibt … nicht automatisch Literatur.« (Harald Staun)
Am 8. März 2009 um 21:14 Uhr
Dieser Kanon-Frühjahrsputz ist das beste Literatur-Spezial seit 2002! Damals gab’s den legendären „Kanon für die Gegenwart: Die wirkungsvollsten deutschen Bücher der letzten zwanzig Jahre“)! Nur die „Hymne“ unter dem Strich sollte das nächste Mal bitte wieder eine echte „Suada“ sein. Rückbenennung und -besinnung dringend erwünscht.
Am 8. März 2009 um 22:13 Uhr
Ich fand’s zu gewollt despektierlich…
Am 8. März 2009 um 22:19 Uhr
@gregor: das war ja mit ansage, insofern absolutamente okay. und manches war auch gar kein echter verriss, etwa niklas maak über mitscherlich.
Am 9. März 2009 um 12:26 Uhr
„besoffen… grenzenlose Misanthropie… Romanmonstrum…“
Das hört sich toll an. Ich muss „Die Blendung“ wohl doch nochmal lesen.
Am 9. März 2009 um 14:15 Uhr
Jetzt weiß ich, welche von den Rezensenten ich aus meinem Lesepensum streichen kann. Viele bleiben nicht übrig.
Am 9. März 2009 um 16:30 Uhr
@Philipp Joos
Na, das darf man nicht so bierernst nehmen. Die Rezensenten benehmen sich nur wie kleine Kinder, denen man für eine Stunde gestattet hat, im Wohnzimmer spielen zu dürfen. Streng genommen wird ja auch kein Kanon entrümpelt, sondern etliche der Neu-Verrisse betreffen Bücher, die in bestimmten Zeitepochen mal fürchterlich en vogue waren (kanonisierte Bücher sind zeitlos).
Bei aller Wertschätzung für Hans Jonas habe ich beispielsweise nie verstanden, warum das „Prinzip Verantwortung“ ein derart dickes Buch geworden ist, obwohl es nur einer einzige Kernaussage beinhaltet, die in wenigen Zeilen erschöpfend ausgebreitet und erklärt ist.
Und Maxim Biller durfte nur „Wälsungenblut“ beschimpfen. Sonst hätte es Ärger mit Reich-Ranicki gegeben…
Am 9. März 2009 um 17:00 Uhr
@Phillip Joos:
Doch, nimm den Beitrag ernst – Lies ihn aber auch komplett! Denn schon im Vorwort steht die entscheidende Zutat, die aus despektierlichem Verriss eine geschickte Provokation zur kritischen, freudvollen, Augen öffnenden Neulektüre macht:
„Es wäre schon ganz schön viel gewonnen, wenn unsere Leser uns leidenschaftlich widersprächen; wenn sie, was wir verspotten und verreißen, nur umso leidenschaftlicher liebten. Oder auch sich dazu inspirieren ließen, mal in den eigenen Bücherschrank zu schauen.“
Am 11. März 2009 um 23:35 Uhr
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