»Thanatos«, Seite 311
Paris, 3. Juli 2009, 22:30 | von PacoGute Twists zu schreiben ist nicht einfach, wenn es neben dem Effekt auch noch um so etwas wie Stil geht, also außerhalb von Kriminal- und Kolportageromanen. Einen der besten abrupten Handlungswechsel hat sich Helmut Krausser ausgedacht. Der Twist passiert auf Seite 311 seines Romans »Thanatos« (1996).
Ich habe ihn im Frühjahr 1998 gelesen, in der Luchterhand-Originalausgabe. Abgesehen von der herausragenden Story (schon der ausgedachte Fund einiger unbekannter Fragmente zum »Heinrich von Ofterdingen« ist der Hammer) und überhaupt diesem ganzen postromantischen Wahnsinn, der in einer Orgie alternativer Szenen endet, gibt es eben noch diese Seite 311, auf der das Unfassbare passiert.
Paralysiert liest man weiter, achtet jetzt auf ganz andere Details, ist ein anderer Leser geworden, und damit hat Krausser einige offene Probleme der Frühromantik nachträglich doch noch gelöst (die Theoretiker um 1800 hatten es ja nicht so richtig geschafft, ihre hehren literarischen Ideen in schöne Romane umzusetzen).
In den folgenden Jahren habe ich jeden, der mal wieder nach einem schönen Buchtipp fragte, auf »Thanatos« verwiesen und diesen Hinweis mit der Aussicht auf die Seite 311 drastisiert. Stets waren alle sofort Feuer und Flamme und haben oft noch am selben Tag das Buch gekauft. Mein eigenes Exemplar habe ich damals verliehen und nie wiedergesehen (Dique? Millek? Marcuccio?).
Ein paar Jahre später traf ich einen alten Freund wieder, und irgendwann kam das Gespräch auf meine Buchempfehlung von damals, die ich selber fast vergessen hatte (ich empfahl da mittlerweile ein anderes Buch, »Mein Esel Bella« von Lorenz Schröter). In seiner vollständigen Form ging der Dialog so:
– Ich hab jetzt mal Thanatos gelesen, nicht schlecht, aber auf der von dir so gefeierten Seite 311 passiert ja gar nichts.
– Echt nicht?
– Nee, ich hab extra drauf geachtet.
– Äh, hast du vielleicht die Taschenbuchausgabe gelesen?
– Ja, ich glaube.
– Ach so, dort passiert es auf Seite 320.
– Ach echt, gar nicht mitgekriegt.
Am 4. Juli 2009 um 00:31 Uhr
Erm, ich habe zwar auch die Hardcover-Ausgabe von Thanatos (hattest du mir ja schließlich zum Kauf empfohlen), aber deine ist das nicht … es sei denn ich habe meine an Millek oder Marcuccio verliehen, hehe.
Am 6. Juli 2009 um 10:11 Uhr
So Paco, habe jetzt extra mal den Bücherstapel auf dem Klo kontrolliert. Von Krausser findet sich da aber nur »Februar« (2002); ein Jahr, an das ich mich kaum mehr erinnern kann. Im Übrigen, ein nummeriertes Exemplar (Nr. 30). Das könnte dir gehören??? Werde jetzt aber erst mal selbst weiterlesen: Seite 62: »Inderinnen, welterfahren, wirsch(…)«
Am 7. Juli 2009 um 13:22 Uhr
Thanatos ist immer noch das einzige Krausser-Buch, das ich noch nicht gelesen hab. Ich war zu jung damals (ist gute 10 Jahre her) und gab irgendwo im ersten Viertel auf. Vielleicht sollt ich mal wieder, jetzt, wo ihr mich dran erinnert habt.
Am 7. Juli 2009 um 15:15 Uhr
@ Andrea, mir geht es da wohl nicht anders als dir. Ich habe es zwar zu hause liegen, aber ich sollte es mal aus meinem Regal holen und lesen.
LG an die anderen Bücherwürmer
Am 8. Juli 2009 um 01:23 Uhr
@Andrea: Thanatos ist IMHO der beste Roman von HelK und ist vor allem als saulustige Germanistiksatire gelungen. Ich kam damals drauf, weil Goetz in Abfall für alle über seine Lektüre berichtet hat.
@Millek: Den Februar kannst du gern an Dique weitergeben, der sammelt die Bände ja.
Am 9. Juli 2009 um 11:18 Uhr
Der Drang zum „Twist“ kann sich allerdings auch nachteilig auswirken. Der von mir für seinen überbordenden Esprit und seinen Phantasiereichtum geliebte Matt Ruff hat die für mich beeindruckendste Volte eines Romans in „Ich und die anderen“ (Set this House In Order) geschaffen, die sich völlig auf das Wirken von Vorurteilen beim Leser verlässt – und deswegen für manche womöglich gar nicht existiert.
Seinem darauf folgenden Roman „Bad Monkeys“ merkt man geradezu das Bemühen an, eine ähnlich genialische Wendung nachzuvollziehen. Umso weniger spielerisch als in seinen früheren Werken wirkte auf mich dann das sich langfristig ankündigende deus ex machina.
Am 14. August 2009 um 17:12 Uhr
Ich weiss nicht warum alle das buch so sehr feiern,mir wurde es ebenfalls empfohlen dabeifand ich es jetzt nicht so berauschend…. Es war ganz gut mehr aber beim besten willen nicht….
gruß partrick