Herkules Farnese
Neapel, 12. Oktober 2009, 16:01 | von Dique»Ich lief eine Stunde in Pompeji herum und sah, was die anderen auch gesehen hatten, und lief in den aufgegrabenen Gassen und den zutage geförderten Häusern hin und her. Die Alten wohnten doch ziemlich enge.«
Das sind Johann Gottfried Seumes Bemerkungen zu Pompeji, und auch Goethe markiert die beengten Wohnverhältnisse »der Alten« in seiner italienischen Reise. Die besten Schätze aus Pompeji sieht man aber sowieso in Neapel selbst, nämlich im Museo Archeologico Nazionale. Also einfach in der Stadt bleiben, in der Bar Antille Seume lesen und dann ab ins Museum.
Vom Bahnhof kann man mit der U-Bahn direkt hinfahren. Die Linea 1 ist aber keine herkömmliche U-Bahn, hier verkehren ausrangierte Züge, die man für den überirdischen Verkehr einfach niemandem mehr anbieten kann. Für die nassfeuchten Untergrundschächte gehen sie aber gerade noch.
Tatsächlich geht es da unten tropisch zu. Es riecht ungeheuerlich vermodert, so wie in einer alten Waschküche, und die Atmosphäre hat was vom pestilenzartigen Modergeruch, den HPL in seinen Erzählungen gern mal verwendet. So mancher Tourist hält das für die Katakomben und fotografiert gleich gnadenlos durch die angelaufene Linse seiner Digicam. Frauen sehen nach weniger als zwei Stationen so aus wie Elaine in der »Seinfeld«-Episode »The Strike« (Folge 9.10) – in der sie in einem Bagel-Shop mit defektem Wasserrohr, aus dem Dampf strömt, auf einen Anruf wartet – also wie in Klamotten geduscht. Ich gehe also zu Fuß.
Es gibt viel Streit darum, welches Exponat denn der größte Hit des Museo Archeologico Nazionale sei, der Herkules Farnese oder der Farnese-Bulle, das Alexandermosaik oder die verschiedenen Wandzeichnungen aus Pompeji. Im Museum selbst spielt das aber eher eine untergeordnete Rolle. Hier sieht’s aus wie die berüchtigten Kraut und Rüben. Unzählige Räume sind abgesperrt, der Farnese-Bulle ist eingerüstet und auch nur aus der Ferne zu betrachten. Außerdem ist es staubig, wie in Pompeji, das ist vielleicht so geplant.
Trotz der vielen geschlossenen Räume kann man sich hier einen Tag lang rumdrücken. Und den Riesen, den Koloss, den Giganten, den Herkules Farnese kann man sich in seiner ganzen Pracht auch in Ruhe von allen Seiten anschauen. Er ist umringt von den drei anderen Besuchern, die sich heute in diese vielleicht weltweit beste Antikensammlung verirrt haben.
Der voluminöse Herkules ist eine aufgeblähte Kopie von Glykon nach einem Original von Lysippus, die man im 16. Jh. in Rom gefunden hat. Lange Zeit stand die Statue dort in der Villa Borghese zur Schau, bis sie dann nach Neapel gelangte. Als man den Herkules fand, fehlten die Beine ab unter dem Knie und wurden dann zeitgenössisch ersetzt. Das Ergebnis war okay so bis man die richtigen, die originalen Beine viele Jahre später ausfindig machte und dann selbstverständlich ersetzte. Goethe hatte den Herkules mit beiden Beinversionen gesehen und für ihn war die Qualität der Gliedmaßen ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hinter dem Herkules an der Wand findet man dann auch entsprechendes Goethezitat, direkt neben den kopierten Beinen, die mir aber eigentlich ziemlich gut gefallen.
Ich wollte eigentlich nur kurz den Herkules sehen und mir dann noch den dritten und letzten Caravaggio Neapels ansehen, »The Martyrdom of St Ursula«, wohl sein letztes Bild, gemalt im Jahr seines Todes, 1610. Vorher stolpere ich aber noch an der Mosaikensammlung vorbei, wohl die besten und berühmtesten der Welt. Darauf wird aber in Understatement-Neapel nicht groß herumgepocht, denn es gibt mal wieder keine Wegweiser, also gelange ich eher zufällig dort hin, einem riesigen Schild folgend, das auf den Lift hinweist.
Im Hintergrund sehe ich dann aber plötzlich auf das Alexandermosaik, gefunden in Pompeji, wie die meisten Exponate. Alexander gegen Darius, in Pompeji liegt heute nur noch eine Kopie, hier, an der Wand, das Original. Die beiden Helden von Kämpfern umringt, Alexander angriffslustig zu Pferd und Darius, leicht verängstigt, auf einem Streitwagen.
Schade, dass ich den »Alexander«-Film mit Colin Farrell gesehen habe, denn leider habe ich jetzt diese Bilder im Kopf. Ich versuche sie mir mit Alexander- und Darius-Lektüre quasi wegzulesen, und das passiert manchmal rein zufällig, wie kürzlich in Arno Schmidts »Aus dem Leben eines Faun«:
Der Verwaltungsbeamte Düring unterhält sich mit einem Pastor, der nebenbei Alexander-Spezialist sei, »Aber Herr Pastor ! Da haben wir doch nur ganz späte und unzuverlässige Quellen ! Und auch die lediglich auf Berichten seiner eigenen Anhänger aufgebaut: Die Drittelswahrheit ! : das Andere muß aber auch dargestellt werden !« »Aber nein, Herr Pastor ! : denken Sie sich, wir hätten eine Geschichte unserer Zeit, nur auf Grund der Tagebücher von Goebbels und Göring : na ?!«
So sieht’s nämlich aus. Cave canem und dann muss ich aber los, die Via Toledo runter und zum Caravaggio, im zweiten Stock der Banca Commerciale Italiana.