Fünf Jahre Feuilleton-Meisterschaft:
Das beste Feuilleton aller Zeiten
Leipzig, 7. Januar 2010, 02:25 | von Paco
Am 12. Januar 2010 kürt Der Umblätterer zum fünften Mal die zehn besten Texte aus dem Feuilleton des vergangenen Jahres. Als Steilvorlage dafür hier ein kleiner Essay über den täglichen Zeitungskauf, über »Brechertexte« und die weltweit hervorragendste Publikationsbastion.
»Einmal alle Zeitungen, bitte.« Die FAZ, die SZ, die taz immer zuerst, später die NZZ, die FR und auch die »Welt«, montags den »Spiegel«, donnerstags die »Zeit«, freitags den »Freitag«, sonntags die FAS. In dieser sowieso unvollständigen Aufzählung fehlen auch nicht-deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften, die französischen, italienischen und spanischen Blätter mit ihren Sparfeuilletons, die »New York Times«, der »Guardian«, der »Spectator« usw. Es passiert einfach selten, dass wir darin etwas so Geschärftes, Getriebenes, Wahnwitziges wie in den deutschsprachigen Kulturressorts finden.
Dort gibt es ihn noch, diesen schwer zu beschreibenden Willen zum unbedingten Feuilletonismus. Hier wird für die drei Leser geschrieben, die auch noch die hinterletzte Anspielung verstehen und dann auch noch wohlfeil oder richtig schlimm finden.
Wenn man genau liest, stehen jeden Tag unfassbare Dinge im deutschen Feuilleton. Und seit dem Zeitungsjahr 2005 küren wir jährlich die zehn angeblich™ besten Texte aus der Kulturberichterstattungsszene. Ursprünglich erschien die Bestenliste im Online-Feuilleton satt.org, aus dem dann ein Feuilleton-Thinktank ausgegliedert wurde, das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque. Dessen Hauptinteresse: die Zeitungen von gestern, vorgestern und vorvorgestern.
Der »Goldene Maulwurf«
Hier im Umblätterer schreiben wir – nicht hauptsächlich, nur nebenbei – über die Kandidaten für die Feuilleton-Top-10. Anfang Januar, nach der Durchsicht aller Silvesterausgaben letzter Hand, wird der Inhalt unseres jährlichen Feuilleton-Readers ein paar Tage lang intern diskutiert und danach veröffentlicht, am 12. Januar 2010 zum fünften Mal.
Dem besten Text des Feuilleton-Jahrgangs verleihen wir dann den »Goldenen Maulwurf«, auch wenn wir immer behaupten, dass die Top-10 nicht gerankt, sondern nur durchnummeriert ist. Dazu gibt es zehn Mini-Laudationes, zu denen im letzten Jahr unser Leser »heiner« bemerkte:
»Von mehreren Artikeln wird ausdrücklich und ohne entschlüsselbare Ironie behauptet, sie seien schlecht. Trotzdem stehen sie auf einer Bestenliste. Was soll das.«
Genau das ist es: Nur beim Lesen des Feuilletons regt man sich über seine Hassautoren auf, über den von der FAZ, die von der SZ und den vom »Spiegel«, und liest sie dann trotzdem jedes Mal wieder mit unbändiger Neugier. (Nebenbei: Nicht ohne Grund haben die Absoluten Beginner dem deutschen Feuilleton ihren Song »Fäule« gewidmet, hehe.) Das Feuilleton ist die schönste Intellektuellen-Soap, und man hat es nur wirklich verstanden, wenn der Name des Journalisten unter dem Text mindestens genauso wichtig ist wie das, was er oder sie geschrieben hat.
Luxus auf Zeitungspapier
Der »Goldene Maulwurf«, unsere Wühltiertrophäe, ist – sicher zum Vorteil aller Beteiligten – eine rein virtuelle. Und sie handelt nicht von rein journalistischen Glanzleistungen, von gewagten Reportagen oder Textergüssen aus Krisengebieten – dafür gibt es schon genügend Auszeichnungen. Es geht um den Zusammenhang zwischen Kulturjournalismus und einem darin stattfindenden stilistischen und epistemologischen Überhang, um die Feuilletontradition, für die immer die Goldenen Zwanziger herhalten müssen, Tucholsky und eine Handvoll anderer Flaneure und Theaterkritiker. Dabei ist das gegenwärtige Feuilleton, dieser Luxus auf immer noch vorwiegend Zeitungspapier, das beste Feuilleton aller Zeiten, immer noch und immer wieder.
Jeder Journalist muss täglich neu ein Problem lösen: einen Text abliefern und dabei so gut wie möglich aussehen. Dabei ist im Feuilleton wie in keinem anderen Ressort auch Platz für Neuansätze und Experimente, die, wenn sie gelungen sind, laut und nachhaltig in den Lesealltag hineinbrechen. Das passiert vielleicht nur einmal im Monat. Aber wenn es passiert, wenn es zwischen dutzenden anderen Texten, nach wochenlanger Durchsicht von lediglich Rezensionsfriedhöfen und Jubiläumsartikeln, wenn man dann diesen einen Brechertext liest, feiert und wiederliest, dauernd andere damit nervt und dauernd von anderen damit genervt wird, wenn dieser Zeitungs- oder Zeitschriftentext, gedruckt irgendwo hinten links zwischen fünf anderen Artikeln, monatelang im Gedächtnis bleibt, dann heißt das was.
Die Preisträger 2005–2008
2005 war das ein Verriss des Kritikers Stephan Maus. Sein Gegenstand war ein unbedeutendes Buch von Augusten Burroughs. Der in der SZ veröffentlichte Verriss begann mit den Worten: »Hi, ich bin Stephan. Ich bin Kritiker.«
2006 war das ein Text des polnischen Journalisten Mariusz Szczygieł, den die Wiener »Presse« nachgedruckt hatte, ein Text, den sich in seiner Unheimlichkeit sonst nur Jorge Luis Borges hätte ausdenken können: die Beschreibung des Tagebuchs einer Krakauer Hausfrau, die über 57 Jahre hinweg emotionslos all ihre Tätigkeiten verzeichnet hat.
2007 ist Renate Meinhof für die »Seite Drei« der SZ eine hinreißende Reportage über einen 90-jährigen Wagnerianer gelungen, die sich einmal nicht mit der Erbfolgepolitik oder einer Premierenkritik beschäftigte, sondern mit dem letzten verbliebenen Rest von echtem Publikum.
Und 2008 hat Iris Radisch mit ihrer ungerechten, aber unübertroffen emphatischen Rezension von Jonathan Littells »Wohlgesinnten« den Text des Jahres verfasst. Ekkehard Knörer nannte ihn »den dämlichsten Text des Jahres«, womit er zweifelsohne auch ein wenig Recht hat, und Alban Nikolai Herbst bemerkte: »Wenn Iris Radisch ein Buch mit Schaum vorm Mund verreißt, dann ist das immer ein unabweisbares Zeichen dafür, daß man es lesen muß.« Welcome to the German Feuilleton, der weltweit hervorragendsten Publikationsbastion! Noch neulich traf ich Karl-Heinz Ott in irgendeinem süddeutschen ICE, und nach ein paar anderen Themen kamen wir, en détail, auf diesen einen Artikel der »rasenden Radisch« zu sprechen, wie sie der erboste Klaus Theweleit genannt hat.
Das Feuilletonjahr 2009
Auch 2009 hatte das Feuilleton wieder einige sagenhafte Ideen. Die FAS druckte eine ganze Seite Frühneuhochdeutsch von Grimmelshausen ab. Das SZ-Magazin hatte endlich mal die Eingebung, Maxim Biller und Henryk M. Broder gemeinsam zu interviewen. Und in irgendeiner FAZ vom Juni fand sich irgendwo mittendrin die rhetorische Frage des Jahres: »Was wäre eigentlich, wenn das Computerspiel eine sowohl ästhetische als auch soziale Zäsur markiert, die dem Einbruch der Zentralperspektive und damit einer neuen Zeit vergleichbar ist?« (Martin Burckhardt)
Über das Jahr haben wir ständig Texte auf die Longlist gesetzt, – ach ja, danke für die vielen Hinweise per Mail (besonders die Peter-Richter-Gutfinder sind da sehr aktiv, hehe) – und davon sind dreißig Artikel übrig geblieben. Von zehn Texten werden wir bald behaupten, dass sie die besten des Jahres sind. Sie stehen dann vielleicht auch wieder mehr oder weniger plausibel für das Feuilletonjahr 2009, so wie unsere Listen für die Jahre davor.
Der »Goldene Maulwurf« könnte dem Namen nach auch ein Vereinspreis ambivalenter Schädlingsbekämpfer sein. Nächsten Dienstag, am 12. Januar, kommt er jedenfalls, nach einem Jahr besessenen Wühlens in einem Berg alter Zeitungen, wieder ans Licht.