25 Jahre Coen-Kino (6):
Fargo (1996)

Hamburg, 8. Februar 2010, 07:30 | von San Andreas

Fargo (Icon)

Jerry Lundegaard, verzweifelter Autoverkäufer, lässt seine Frau von zwei zwielichtigen Ganoven kidnappen, um vom Lösegeld seines Schwiegervaters einen Großteil abzu­zwacken. Als die Sache gründlich schief geht und es zu Kollateralschäden kommt, tritt Frau Sheriff Gunderson auf den Plan …

Coen Country. Das eisige, unwirtliche Heartland des Mittleren Westens. Fargo liegt im Südosten von North Dakota, der Film spielt aber auch in Minneapolis, Minnesota – der Heimatstadt der Coens.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Marge Gunderson), Steve Buscemi (Carl Showalter), Bruce Campbell (Soap Opera Actor), Peter Stormare (Gaear Grimsrud), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »This was supposed to be a no rough stuff type deal!«
(Jerry Lundegaard erfährt, dass die Dinge etwas aus dem Ruder laufen)

Coen Gold. Das Kidnapping. Wie Showalter mit Skimaske und Brechstange die Verandatreppe heraufkommt und durchs Wohnzim­merfenster späht und Jean Lundegaard ihn beobachtet, dermaßen perplex, dass sie keinen Muskel rühren kann, ist schauerlich komisch. Wenn die arme Frau die Kidnapper dann noch unterstützt, indem sie sich selbst ausknockt oder später mit verbundenen Augen gegen die Bäume rennt, mag man sich nicht so recht mit den feixenden Gangstern freuen. Humor der ganz fiesen Sorte.

Classic Coen? Nachdem »The Hudsucker Proxy« von vielen als mittlere Enttäuschung abgeheftet worden war, kam mit »Fargo« eine Coen-Breitseite, die Kritik und Publikum schlichtweg dahinraffte. Ein genialisches Glanzstück, das stilistisch und inhaltlich an die Welt von »Blood Simple.« erinnerte. Doch während der noch die Attribute eines Neo Noir aufwies, war »Fargo« ein waschechtes Original.

Der Film ist nicht retro, ist nicht Pop, ist nicht Avantgarde, nicht mal Zeitgeist. Es ist ein Pulpthriller ohne Pulp, ein Schmuddelroman ohne Schmuddel. Er spielt in einem zeitlosen Provinzkosmos, dreht sich ausschließlich um sich selbst. Er beginnt, ist perfekt, und er endet. Keine Verweise, keine Doppelböden, keine Botschaft (Joel Coen: »There is nothing to understand.«). »Fargo« ist Kino, Kino ist »Fargo«.

Der Film lässt das hässliche Antlitz des Verbrechens in Small Town America auftauchen, doch treffen wir weder auf Kleinstadtklischees noch Krimischablonen. Das Personal des Films erscheint so erschre­ckend normal, so dilettantisch und profan, bisweilen ausgesprochen idiotisch, dass wir die Behauptung, der Film beruhe auf Tatsachen, ohne Weiteres zu glauben bereit sind.

Eine Finte, wie der Disclaimer im Abspann verrät (den einige nicht gelesen haben: auf den Feldern Minnesotas sollen Bürger beobachtet worden sein, die eifrig nach der Tasche mit dem Geld suchten …). Tatsächlich gab es in der Gegend ähnliche Fälle um verpfuschte Entführungen, wie man nachlesen kann, und es gibt sie wahrscheinlich überall. In der eiskalten Ödnis North Dakotas und Minnesotas allerdings gewinnen die Auswüchse des unorganisierten Verbrechens eine eigentümlich faszinierende Note. Blut im Schnee, ein Bild von großer Kraft.

So versammeln sich in »Fargo« eine Anzahl frappierender Gegensätze: Unter seiner verharschten Oberfläche ruht ein warmer Kern, seine Ästhetik scheint einerseits stilisiert, andererseits bitter realistisch, er steckt voller Humor – und grässlicher Gewalt. Wie passt das zusam­men? Kann man dem Film vorwerfen, er wäre unentschlossen im Ton, würde Gewalt selbstzweckhaft und Humor lediglich als ›comic relief‹ einsetzen?

Schwerlich; die Dramaturgie hegt keine Hintergedanken. Wenn in »Fargo« Gewalt aufblitzt, dann tut sie das hart und trocken, ohne Soundtrack, ohne Stilisierung – wenn man einen Vergleich bemühen möchte, wie bei Scorsese, nicht wie bei Tarantino. Der Humor des Films schwingt mit, drängt sich nicht auf, ist lapidar, teils tiefschwarz. Die Coens gewinnen ihre komischen Momente aus der präzisen Beobachtung der menschlichen Natur, nicht, wie noch bei »Raising Arizona« und »Hudsucker«, aus Szenen, die auf Lacher hin inszeniert sind.

So ist die liebenswürdige Unbedarftheit von Chief Marge Gunderson ihr (und unser) einziger Schutz vor der brutalen Realität der Morde und Leichen in ihrem Bezirk. Wie sie hochschwanger über den verschneiten Tatort stapft und in herrlichem Midwest-Singsang ihre Ermittlungen kommentiert, ist gleichermaßen glaubwürdig wie amüsant.

Frances McDormands Charakter ist so weit entfernt von einem Klischee-Cop wie nur irgend möglich; sie erinnert in ihrer drolligen, scheinbar arglosen Art und ihrer nichtsdestoweniger unfehlbaren kriminellen Intuition eher an Columbo oder Miss Marple und bringt das in den Film, was vielen anderen Coens abgeht: ein warmes Herz. In Marge und ihrem gemütlichen Mann, der Enten malt und extra in aller Frühe aufsteht, um seiner Frau Eier zu machen, findet »Fargo« sein Zentrum. Und das lange, nachdem der Plot um ein Kidnapping und einen Doppelbetrug in Gang gesetzt wurde.

Jerry Lundegaard (selten besser: William H. Macy) liegt die Neben­tätigkeit als Krimineller nicht besonders, doch er sieht darin die einzige Möglichkeit, seinem zermürbendem Fußvolk-Dasein zu entkommen. Wenn er sich dann um Kopf und Kragen redet, als sein Plan grandios misslingt, wenn er um Fassung ringt, sein Lächeln eine Grimasse, dann erfasst den Zuschauer ein kurioser Mix aus Mitleid und Schadenfreude.

Seltsamerweise nimmt man auch Anteil am Schicksal von Carl Showalter (kinda funny-lookin‘: Steve Buscemi), dem fahrigen, wehleidigen Freak, der die Drecksarbeit erledigen soll, aber kaum mit seinem Kompagnon Gaear Grimsrud (unheimlich: Peter Stormare) klar kommt, einem stoischen Grobian mit Hang zu eruptiver Gewalt. Die Kooperation der beiden endet dann auch abrupt und tragisch; ihre letzte gemeinsame Szene bei der Schreddermaschine ist auf so schockierende Weise komisch, dass sie wohl als die am besten in Erinnerung gebliebene aller Coen-Filme bis 1996 gelten kann.

Das Jahr markiert einen (ersten) Höhepunkt im Schaffen der Coen Brothers. Nie zuvor war ihnen eine derartige Welle ungeteilten Lobes entgegengeschlagen. Sämtliche Kritiker schienen sich abgesprochen zu haben, den Film ihren Jahresbestlisten voranzustellen. »Fargo« eignet sich auch gar nicht zum Ausleben kapriziöser Kritikerlaunen, er bietet kaum einen Halt für Nörgelei. Er ist einfach gut und rund, und er macht den Eindruck, als wisse er das selbst nicht.

Er fühlt sich an wie ein unaufdringlicher Independent-Streifen, den die Experimente der Avantgarde genauso unbeeindruckt gelassen haben, wie sein Stil nicht überformt wurde von den kommerziellen Unbilden populärer Kinokultur. Seine Wirkung scheint direkt von den Charak­teren auszugehen, in deren Haut der Film, und mit ihm der Zuschauer, behende schlüpft, einer nach dem anderen. Die Geschichte wird weniger gezeigt, sie wird erfahren.

Das ist großes Kino, und es scheint so mühelos. Man darf aber nicht vergessen: Wir befinden uns in einem Coen-Film, und jedes Detail ist wohlkalkuliert. Macys Gehaspel und Gestotter stand genau so im Skript, McDormands Manierismen und Phrasen (»Ya, you betcha.«) wurden echten Landsleuten von Dialect Coaches abgeschaut. Es existierte ein detailliertes Storyboard, wie bei jedem Coen-Film. Die Produktion musste auch noch dem Winterwetter hinterher reisen, denn die Coens und ihr Hauskameramann Deakins hatten präzise Vorstel­lungen von den Bildern, die sie aufnehmen wollten.

Und selbige prägen den Film. Diese frostigen Flächen, der fahle Himmel über der Ahnung eines Horizonts, die verschneiten Parkplätze, die eisverkrusteten Böschungen der endlosen Landstraßen. Und mitten darin, ein Gemetzel. Während der Promotion zum Film wurde ruchbar, dass das Opfer, das mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegt, von einer Berühmtheit verkörpert würde; die Rede war von Prince, der aus Minneapolis stammt. Dies stellte sich genauso wie die Authentizitäts-Halbwahrheit als von den Coens gestreutes Gerücht heraus.

Der Schluss-Sentiment des Films ist Marge Gundersons simpler Moral gewidmet, die in ihrer Banalität doch so einleuchtend und entwaffnend ist, dass man letztlich doch so etwas wie eine lebensweise Botschaft aus »Fargo« mitnehmen kann: »There’s more to life than a little money, you know. And here ya are. And it’s a beautiful day.«

Coen Culture. Dem Film wurde 2006 die Ehre zuteil, in die National Film Registry aufgenommen zu werden, eine Institution der Library of Congress, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Filme zu bewahren, die »culturally, historically, or aesthetically significant« sind. Dazu muss ein Film mindestens zehn Jahre alt sein, und »Fargo« ist einer von nur fünf Filmen, die mit ihrem zehnten Geburtstag postwendend aufge­nommen wurden. Er ist von allen 525 Werken im Archiv bis heute der jüngste Beitrag.
 

3 Reaktionen zu “25 Jahre Coen-Kino (6):
Fargo (1996)”

  1. Gregor Keuschnig

    Generell gesagt: Grosses Lob an diese tollen Ausarbeitungen! (Überlege gerade, dafür einen Goldenen Bleistift oder sowas zu stiften [sic!].)

  2. noribori

    Das Filmscript ist ja online erhältlich, daraus geht hervor, dass es ursprünglich in vielen Szenen schneien sollte. Im fertigen Film schneit es aber kein einziges Mal, nur alter vereister Schnee bedeckt die Landschaft, Autos tauchen aus nebeliger Ferne auf. Ob das wirklich Absicht war? Ich kann mir einige dramatische Szenen hervorragend mit wildem Schneefall vorstellen. (Den könnte man natürlich künstlich erzeugen, in dieser weiten Landschaft würde das aber vielleicht unnatürlich wirken, wenn man nur Nahaufnahmen mit Schneefall sieht.)

    Der nicht ernst gemeinte Hinweis auf Prince taucht auch im Nachspann auf: Victim in Field – (Symbol)

  3. San Andreas

    Stimmt, wenig Schneetreiben. Für Schneekanonen war bestimmt kein Geld da, denn seit der »Hudsucker«-Pleite war man wohl etwas klamm. Und dann noch einen der wärmsten Winter zu erwischen, war einfach Pech, alles war am Schmelzen. Die Jagd nach Schneelandschaften soll »nerve-wracking« gewesen sein, teilweise hat man Kunstschnee in der Gegend verteilt. Das Schneetreiben kann man sich ja selbst erzeugen – in der »victim in field«-Schneekugel, die zu VHS-Zeiten bei einer Special Edition mit dabei war ;-)

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