Deleuze und Wittgenstein

Paris, 6. März 2010, 10:45 | von Paco

Die einzigen leidenschaftlichen Wittgensteiner, die ich kenne, sind ein paar Bekannte aus der ENS, Trotzkisten. Diese Typen, die ernstlich die KPF eine »ruse de la bourgeoisie« nennen. Manchmal sehr amüsant, alte Folklore aus dem Quartier Latin, aber auf die Dauer ein bisschen schwer auszuhalten.

Eben bin ich einem von ihnen über den Weg gelaufen, und während unseres kurzen stop-and-chat fiel mir ein Artikel aus der letzten FAS von 2009 wieder ein, Anlass war das Erscheinen der eingedeutschten Version von Gilles Deleuzes großem »Abécédaire«, fast acht Stunden frei delirierender Deleuze auf Video, ganz hervorragend großartig.

Ich hatte eben jenen Artikel von Cord Riechelmann erst vor kurzem wiedergelesen und immer noch ziemlich gutgefunden, wie Riechelmann ein IMHO treffendes Bild der Deleuze’schen Philosophie liefert und sich gleichzeitig allmählich verliert und am Ende Satz auf Satz ganz ohne Bezüge folgen lässt. Irgendwie macht das Deleuze im »Abécédaire« ja auch. Er scheint manchmal auf ziemlich komische Ideen zu kommen, die nur für eingeweihte und eingeschworene Fans noch irgendeine Logik haben. Also ersetzt Riechelmann langsam, vielleicht ohne es selber wirklich zu bemerken, Zusammenfassung durch Mimesis, und bei Deleuze ist es wahrscheinlich das einzig Machbare.

Aber nun zum tieferen Zusammenhang zwischen Deleuze und Wittgenstein, zu einer dieser zelebrierbaren Anekdoten der jüngeren, jüngsten Philosophiegeschichte. Deleuze war der totale Wittgenstein-Hasser, er nannte ihn gern den »Großinquisitor« (in einer Vorlesung über Leibniz). Im »Abécédaire« weigert er sich glatt, irgendwas zu »W wie Wittgenstein« zu sagen, und wird, auf seine gutmütige Art, wütend. Die Szene gibt es bei YouTube, kurzes Zitat:

»Pour moi c’est une catastrophe philosophique, (…) c’est une régression massive de toute la philosophie.«

Man versteht auch sehr schnell, wieso Deleuze die Wittgensteiner nicht abkonnte. Wenn es einem darum geht, neue Begriffe zu schöpfen, concepts, die das Undenkbare, das eigentlich Nur-noch-nicht-Gedachte, denkbar machen sollen, dann ist ein »wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« das genaue Gegenteil und tatsächlich der ultimative Schlag ins Gesicht des Gilles Deleuze.

Und daran dachte ich eben gerade ganz kurz, aber ich musste Deleuze nicht einmal erwähnen, unser stop-and-chat war auch so schnell vorbei, und ich ging meiner Wege.

6 Reaktionen zu “Deleuze und Wittgenstein”

  1. Dumbledore

    Ich finde interesant, dass Deleuze in dem Video sagt, „es gibt keine Wörter um diese Gefahr (=Wittgensteins Philosophie) zu beschreiben“ (il n’y a pas de mots pour décrire ce danger là, oder so ähnlich). Und deswegen schweigt er zum Buchstaben W, weil man darüber nicht sprechen kann. Deleuze ist also selber Wittgensteinianer :)

  2. foxi

    Das ist beneidenswert. Der einzige ernsthafte Wittgensteiner, den ich kenne, ist Kreationist. Wir könnten sie einander vorstellen.

  3. Nictenstein

    Neben anderen (nicht sehr tiefgehenden) Affinitäten Deleuzes zur Frankfurter Schule erster Generation (Adorno, Marcuse), teilt er anscheinend auch deren Verwechslung von Wittgensteins Philosophie mit dem Positivismus.

    Zweifellos war Wittgensteins Frühschrift – der Tractatus – einflussreich und schulbildend und dorthin gehört der Satz, dass man über Unsagbares schweigen müsse. Das ist kein Ausschluss des noch Ungedachten, sondern eine semantische Kritik an metaphysischen Aussagen in der Philosophie. Diese Phase wird auch als „Wittgenstein I“ bezeichnet.

    Unterschlagen wird durch Deleuze jedoch Wittgensteins gesamte Entwicklung von 1930 bis zu seinem Tod 1951 – der sogenannte „Wittgenstein II“. Dessen „Philosophische Untersuchungen“ verlassen und kritisieren die eigene frühere Position in vielen Punkten. Das dort vertretene Konzept der „Sprachspiele“ hatte schon in den 1970er Jahren eine breite Tradition in Philosophie, Linguistik und Sozialwissenschaften begründet. Diese zeichnet sich gerade durch undogmatische Offenheit aus und hat noch weniger Probleme, die Erfindung neuer Begriffe etc. zuzulassen.

    In Frankreich hat sich etwa Lyotard darauf bezogen und es ist mir unklar, warum Deleuze mit dem Namen Wittgenstein nur dessen kleine Schrift aus dem ersten Weltkrieg verbindet (und diese auch noch oberflächlich interpretiert). Anscheinend ist der Ausdruck „Wittgenstein“ bei Deleuze eher ein Phantasma mit Distinktionsfunktion gegenüber positivistischer Philosophie – wie auch bei Adorno und Marcuse. Richtig ist allerdings, dass Wittgenstein als Mensch bisweilen recht dogmatisch auftrat.

  4. niwoabyl

    Ich bin mir nicht so sicher, dass Deleuze mit dem Namen Wittgenstein wirklich nur den Tractatus verband. Wenn ich mich recht entsinne, gibt es zB in Differenz und Wiederholung längere Ausführungen zu Wittgensteins Philosophie (ich kann mich in dieser Sache durchaus irren, ich bin bei weitem weder Deleuze- noch Wittgenstein-Experte.)

    Zweifellos hat Deleuze vor allem „die Wittgensteiner“ im Visier, weit mehr als Wittgenstein selber. Vielmehr habe ich den Eindruck, er wollte Wittgenstein gerade das vorwerfen: dass er eine Schule gründete, dass sich also sein Denken dazu eignete, dem Gründen einer neuen Schule Pate zu stehen. (Im Abécédaire gibt es auch ein Paar lustige Bemerkungen zum Krieg – „lutte au couteau“! – zwischen französischen und belgischen Heideggerianern, die von derselben generellen Abneigung gegen Denkschulen zeugen.) Im Gegensatz dazu verteidigt Deleuze ganz explizit ein Philosophieverständnis, das die Freiheit des „Schülers“ gegenüber der Lehre voraussetzt. In Bezug auf Spinoza sagte er zum Beispiel (in einer inzwischen bei Gallimard erschienenen Vorlesung an der Universität Vincennes), er habe gar nichts gegen einen „Teilspinozismus“ einzuwenden, der u.a. das ganze fünfte Buch der Ethik ausklammert. Auch die kohärenteste philosophische Doktrin dürfe man so lesen, dass am Ende nur Teile davon übrig bleiben, wenn sich das nur als produktiv erweist; dies sei nicht minder „philosophisch“ als das Bemühen des Philosophielehrers, der Deleuze ebenfalls war, eben die ganze Doktrin verständlich zu machen.

    Wenn ich recht verstehe, waren also Wittgensteiner für ihn Leute, die eine Philosophische Doktrin gegen andere ausspielen, und die Reinheit der Lehre gegen vermeintliche Abtrünnige zu verteidigen trachten. Ob diese Lehre für ihn letztlich mit Positivismus gleichzusetzen war, scheint mir allerdings nicht so klar.

  5. bermudadave

    gut

  6. laotse90

    Deleuze schmeckt (zu recht) der common sense nicht, zumindest nicht als Instanz, auf die man sich in irgendeiner ernsthaften Argumentation berufen könnte. Daher misstraut er dem konventionalistischen Anteil der Sprachauffassung von Wittgenstein. Diese Konventionen sind für Wittgenstein aber keine inhaltlich fixierten Positionen, es handelt sich vielmehr um eine Konventionalität, eine abstrakte Notwendigkeit, In Deleuzes Begriff um ein Differential. Für mich scheint es, as ob die beiden gleichwie in Paralleluniversen denken, sehr sehr ähnlich, aber schwierig zueinander zu bringen. So ist für Deleuze etwa die Mikrologie des Menschen ein äusserst wichtiger Ausgangspuinkt (Tarde), ebenso die Population der (abstrakten) Körper (die z.B. auch Gedanken, Worte, Habits sein können), deren Brodeln (Logik des Sinns, serie 16 und 17) in einer paradoxen Logik der Genese (!!) die Möglichkeit für Sinn (oder transzendentalen Sinn) erzeugen. Das ist nicht viel anders als Wittgensteins starkes Hervorheben der Variation, sein zurückweisen der Vorstellung einer Allgemeinheit auf derselben (effektiven) Ebene, auf der wir die Einzelfälle antreffen.
    Deleuze ist später, nach dem Strukturalismus, am Werk, die Lebensform ist eine andere, allgemein und seine, er fliegt einen anderen Weg. Aber beide betreiben atemberaubenden Kunstflug. Deleuze mit WIttgenstein und Wittgenstein mit Deleuze lesen, wie Deleuze das mit Hume, Kant, Leibniz und Spinoza gemacht, das ergibt schon ein besondres Licht.
    DIe persönliche Abneigung von Deleuze stört dabei nur (sehr, sehr) wenig, und wenn überhaupt, nur die Shacfe und die Gnu’s dieser Welt.

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