Mit Siegfried Kracauer auf dem Weihnachtsmarkt
Konstanz, 28. November 2010, 13:50 | von MarcuccioKracauers Feuilleton »Weihnachtlicher Budenzauber« erschien in der »Frankfurter Zeitung« vom 24. Dezember 1932. Witzigerweise ist der 24. inzwischen ein Datum, an dem Weihnachtsmärkte, die Ende Oktober öffnen, schon lange wieder abgebaut sind. Mag auch sein, dass es 1932 noch keine Lebkuchen ab Ende August gab. Aber ansonsten hat sich wenig geändert:
Andrang
»eine unübersehbare Menschenmenge (…) bildet Knäuel, die zergehen, wälzt sich weiter und entschwindet wieder (…). Es ist, als sei das Gewimmel ein notwendiger Bestandteil der hölzernen Stadt.«
Lichterterror
»Hier in der Budenstadt wagt sich das Gelichter vollständig an den Tag. Es kriecht aus Ritzen und Schlupfwinkeln hervor und freut sich des Passierscheins, den man ihm in Erwartung der Feiertage gegeben hat. Solange sie dauern, währt seine Herrschaft.«
Weihnachtsmarktartikel
Kracauer beobachtet das klassisch zweigeteilte Angebot. Einerseits die sinnlosen »Dinge, die unserer Laune so sehr zu Willen sind, daß sie auf den leisesten Druck durch den Hohlraum der Feiertagszeit hüpfen«. Zum Beispiel Aufziehspielzeug:
»Die Katze lupft ein Bein, der Esel streckt Zunge und Schwanz raus, und die graue Maus, der ›Schrecken der Damenwelt‹, huscht pfeilgeschwind über den Boden. Es muß schön sein, wenn die Damen quietschen und sich hinterher alles in Wohlgefallen auflöst.«
Daneben jede Menge »Puppengeschöpfe« und »Dämonen, die sich das ganze Jahr über nicht austoben dürfen« – etwa dieser Arcimboldo aus Kurzwaren:
»Seine Gliedmaßen sind Garnspulen und -rollen, und das ganze Gestell wird von einem Seidenstern gekrönt. Wehe, wenn ihn einer abwickelte. Dann verschwände die drollige Schrecklichkeit, und das Fadenmännchen wirkte zu unserem Verderben wieder hinter den Kulissen.«
Andererseits »handfeste Waren«, die man eigentlich das ganze Jahr kaufen könnte:
»Seifen, Krawatten, Parfümerien, Schals (…), die sich über ihre nichtsnutzige Nachbarschaft erhaben dünken. Sie liegen in Koffern zur Schau, die so billig sind wie sie selber, und fordern seriöse Beachtung. Aber wenn sie auch noch so wichtig tun, gehören sie darum doch nicht minder zur Bagage ringsum. Man hat sie aus den Geschäften vertrieben, und nun führen sie in der Budenstadt dieselbe Vagabundenexistenz wie das übrige Gelichter und die Verkäufer an Ständen und Tischen.«
Mit keinem einzigen Wort erwähnt wird, was vielleicht für einen versöhnlicheren Rundgang gesorgt hätte: Glühwein.
Am 3. Dezember 2010 um 16:25 Uhr
kleine anmerkung: gelichter hat hier nichts mit licht zu tun, es bedeutet soviel wie: „nicht so richtig vertrauenserweckende gesellen, leute, zwielichtige gestalten, typen von der sorte“, uspr. relativ wertfrei „leute von der art, solche leute“. vgl. auch Deutsches WB 5, 3016-3018.
Am 3. Dezember 2010 um 16:29 Uhr
aehm ulrike, ich glaube das mit dem ge/lichter ist ironisch gemeint, wuerde mich jedenfalls wundern wenn nicht
Am 3. Dezember 2010 um 16:38 Uhr
Sehe ich auch so, es geht um doppelten Sinn (typisch für Feuilleton der 20er /Anfang 30erjahre?), man beachte auch im letzten Zitat den Doppelsinn von „Bagage“. aber gut, der Witz wird durch die Erklärung hier bestimmt nicth besser :)