Die Erschütterung!
Stefan George und Julian Assange

Stanford, 21. Dezember 2010, 09:42 | von Srifo

Wer würde da stundenlang auf Julian Assange warten? Darauf, dass er im Park von Ellingham Hall in Norfolk mit Fußfessel samt elektroni­scher Kugel vorbeischlendert? In etwa so, um uns gleich mal in Schieflage zu begeben, wie Walter Benjamin 1921 im Park des Heidelberger Schlosses auf den schon früh gebrechlichen Stefan George samt Spazierstock gewartet hat. Und das nur, um ihn zu sehen.

Was beide gemein haben – George und Assange –, liegt dabei sofort auf der Hand. Zunächst einen Kreis eingeschworener Mitarbeiter, in dem sie unmissverständlich das Führungszentrum einnehmen. Dann ständiges Reisen, Couchsurfing bei Freunden und gleichzeitiges Arbeiten.

Dann eine virulente Jugendzeit im Kontakt mit dem Zeitgeist – Assange 1987 das erste Mal als Hacker ›Mendax‹, George das erste Mal 1889 als »un de ces mardis«, abends bei Mallarmé. Schließlich verbindet sie, und das ist es ja eben, dass beider Interesse etwas Höherem gilt, etwas nur schriftlich zu Vermittelndem, dessen Richtigkeit beide überzeugend auftreten und zur Tat schreiten lässt.

Zurück zur Auftaktfrage: Wer also, wo doch die Tat und nicht die Person zählt, wer würde da auf Assange warten? Wer würde nicht einfach zuhause bleiben und Wikileaks lesen, sondern müsste hinschauen, wie der Meister sich nähert und was trinkt? Assange einen Kaffee aus der Frontline-Club-Tasse, George Eiswein aus dem Silberbecher. Benjamin gibt den Hinweis: Der schon »Erschütterte« kann nicht anders als warten und hinsehen.

»… Im Bewußtsein, daß ein solcher Versuch nie und nimmer gelingen könnte, bemühe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwärtigen, wie George in mein Leben hineinwirkte. Voranzuschicken ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn gesehen … Stunden waren mir nicht zu viel, … lesend, auf einer Bank, den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. … Doch das war alles zu einer Zeit, da die entscheidende Erschütterung seines Werkes mich längst erreicht hatte.« (Über Stefan George, 1928, GS II/2, S. 622f.)

Hat die heimische Wikileakslektüre die Journalisten noch nicht genug erschüttert, die da der Person Assange im dezembrig totgesagten Park ihre Aufwartung machen? Eventuell nicht genug, denn wieso sollten sie sonst auf Assange warten und Zeugen des Meisters werden? – Um Neues von seinem leckschlagenden Kreis zu erfahren, hätten sie ja im Warmen lesen können.

Oder andersherum: Trotz Georges unvergleichlicher »Anonymität bei Weltberühmtheit«, wie Ludwig Marcuse 1928 Georges medienabsti­nentes Bild in der »Kölnischen Zeitung« begreift, war Benjamin einfach neugierig und hat ihn sehen müssen. Wäre er da in unserem, um Frank Rieger aus der FAZ zu zitieren, »Zeitalter der Geheimnislosigkeit« einem so öffentlichen Meister wie Assange nicht folglich fern geblieben? Warum also warten? Oder besser: Worauf also warten?

Bei George – »Komm … und schau« – ging man in den Park und hing ab (damals gab es noch ein intransitives ›schauen‹, später ja erst wieder in »Tristesse Royale«). Laut Benjamin bekam man dort aber nicht »von Birken und von Buchs« die Erschütterung, sondern irgendwie vom Lesen. Den Meister zu sehen ist nur Ornament. Entsprechend versorgt Assange heute per iPhone im Park, mit den ›Cables‹ als »Schimmer ferner lächelnder Gestade«.

Wie immer man es chiffriert, es muss die Erschütterung sein, auf die der Schreiber lesend zu warten hat. Irrelevant, ob er sie in den nummerierten Oktavbändchen mit Goldschnitt oder aus den PDFs der Allgegenwärtigkeit schaut. Aber die theoría wird nicht mehr sosehr übers Wort genommen, heute zählt für die Erschütterung scheinbar umso mehr, dass man weiß, derjenige ist anwesend, aus dessen Texten die Erschütterung lecken soll. So eine Art Zwangsbeaufsichti­gung des Autors über den Leser, nicht umgekehrt, wie eben bei Benjamin.

Usw.
 

4 Reaktionen zu “Die Erschütterung!
Stefan George und Julian Assange”

  1. Gregor Keuschnig

    George und Assange wurden/werden von ihren Anhängern wie religiöse Heilige verehrt. Beide bilden Projektionsflächen. Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass George-Jünger die Werke ihres Gottes inbrünstig wie Evangelien gelesen haben, während dies bei WikiLeaks nicht der Fall sein dürfte (und vielleicht auch gar nicht geboten ist, denn schließlich ist Assange nicht Autor).

    Assange ist der Klatschreporter der politisch desillusionierten Klasse: Wo jener die Mülleimer der Celebrities nach brauchbaren Reliquien für deren Destruktion sucht, veröffentlicht jener Indiskretionen aus einem immer als abstrus empfundenen Milieu im Häppchenformat, die dann wie neue Evangelien gefeiert werden.

  2. Srifo

    Ich kann dieser guten Beobachtung nur beipflichten. Dass jetzt der Evangelizismus sogar noch vor der eigentlichen Mitteilung stattfindet oder gar dem Eintreten des Mitgeteilten, macht ihn zu einem weiter verblassten Zitat der religionsstiftenden ‚frohen Botschaft‘. Dieses „why do we shoot the messenger“-Plakat weist jedenfalls auf die Bedeutung einer Voröffentlichkeit hin, die den nötigen Glauben schon erzeugt, bevor der Inhalt überbracht wurde. Bei George kommt der geheimnisvolle Anschein von den ästhetizistischen Formeln im Text, für Wikileaks ist es wohl eher die geheimnisvolle Herkunft der Nachricht, die Glauben macht. Deswegen plädiert Eco ja für die Abschaffung deren Quelle Staatsbotschaft, der institutionalisierten frohen Botschaft, wenn man so will. Ich bin der Meinung, man kann die Umkehrung der Verkettung Enthüllung und Wahrheit beobachten; die Wahrheit kommt jetzt von ihrem Schein an sich, vor der Enthüllung. Symptomatisch für das Zeitalter der Geheimnislosigkeit ist auch, wenn sich die demonstrierenden Anhänger des Geheimnisses kein Gesicht geben wollen, als Widerstand gegen dieses Zeitalter sozusagen. Mal sehen wo das hingeht…

  3. /sms ;-)

    wenn wikileaks bloss geschäftsmodell wäre, mit welchem sich eine gemeinschaft von medienhäusern (NYtimes, guardian, spiegel etc.) investigativen journalismus leisten kann, dann scheint mir der letzte abschnitt bloss konsequent: „aufmerksamkeit erregen“ & „aussschaltvermeidung erreichen“ (radio energy berlin, http://tv.rebell.tv/p1158.html). texte aus welchen die anderen „die erschütterung lecken“. eine ganz gezielte konstruktion zur „zwangsbeaufsichti­gung“ der konsumierenden durch erregung, beschäftigung, dauerunterhaltung, (fröhlich schöne neue) kontrolle. (http://blog.rebell.tv/p16287.html)

    wir sind zeitzeugen geworden, in welcher einer technologie – nach radio, kino und fernsehen – (schon wieder!) erfolgreich zu einer „zwangsbeobachtungsmaschine“ umgebaut worden ist. wir leiden (noch immer) unter totaler ökonomisierung der kommunikation und beklagen, dass es uns (wiederum) nicht gelungen ist, jene ganz andere möglichkeit von kommunikation (dieses mal dank hyper_text und hyper_link) nicht genügend zu kapitalisieren…

    d!a!n!k!e! srifo ;-)

  4. Srifo

    ps. sms, fast hätte ich noch noch einen bogen zum prokrastinieren aka ‚parkieren‘ im park geschlagen, wäär z’schöö xii…

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