100-Seiten-Bücher – Teil 3
Adelbert von Chamisso: »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« (1814)
Hamburg, 25. April 2011, 13:08 | von Dique
Ein junger Herr verkauft seinen Schatten an einen grauberockten Mann. Das so beginnende Kunstmärchen ist aber keine Nonsensprosa, sondern eine genaue Ausarbeitung dieser närrischen Augenblicksidee. Der »Schlemihl« hat sich bis heute gehalten, weil die Schattenlosigkeit als Allegorie einfach sehr vielseitig ausdeutbar ist und zu immer neuen Lesarten geführt hat. Jedes beliebige Stigma lässt sich da herausinterpretieren.
Als Gegenleistung hat der unbedachte Schattenverkäufer übrigens einen Goldbeutel erhalten, der sich von ganz allein immer wieder füllt. Allerdings muss der Neureiche schnell erfahren, dass er ohne Schatten von seinen Mitmenschen verstoßen wird: »Von einem Schattenlosen nehme ich nichts an.« Immerhin taucht der Mann im grauen Rock nach einem Jahr wieder auf und möchte ihm den Schlagschatten zurückgeben. Er könne sogar das Goldbeutelchen behalten, müsse ihm dafür allerdings seine Seele überlassen. Diesmal widersteht der Schattenlose und verbringt den Rest seines Lebens büßend als einsiedelnder Botaniker.
Um allzu ernsthaften Schulbuchinterpretationen zu entgehen, hilft übrigens ein Blick in Arno Schmidts Roman »Aus dem Leben eines Fauns« (1953), der ebenfalls sehr kurz und schnell zu lesen ist. Dort erscheint Schlemihls tragisches Schicksal plötzlich als ziemlich zukunftsträchtig. Außerdem werden zeitgemäße Alternativen für das Goldsäckel durchgespielt: »Sommersonne : Schatten : Peter Schlemihl ! : Heute würd er in‘ Zirkus gehen und Unsummen verdienen ! Wenn mir bloß mal son <grauer Mann> erschiene, und mir was dafür böte, was Zeitgemäßes : ne Tabakspfeife, die nie leer wird; n Auto, das ohne Benzin fährt, ne Pferdewurst, die nicht abnimmt.«
Und Recht hat Schmidt. Was gibt es Besseres, Schöneres, Zeitgemäßeres als eine unendliche Pferdewurst!
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Nachwort von Thomas Mann. Illustriert von Emil Preetorius. Frankfurt/M.: insel taschenbuch 1984. S. 7–122. (= 116 Textseiten)
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit zwölf Zeichnungen von Karl-Georg Hirsch. Frankfurt/M.; Leipzig: Insel Verlag 2001. S. 3–113. (= 111 Textseiten)
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Kommentar von Thomas Betz und Lutz Hagestedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. S. 9–82. (= 74 Textseiten)
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. München: K. G. Saur Verlag 2003. (Großdruckausgabe.) S. 3–109. (= 107 Textseiten)
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit Anmerkungen von Dagmar Walach. Stuttgart: Reclam 2009. S. 3–79. (= 77 Textseiten)
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 26. April 2011 um 18:08 Uhr
„Was gibt es Besseres, Schöneres, Zeitgemäßeres als eine unendliche Pferdewurst!“
Vor allem in Zeiten öffentlicher Rauchverbote!
Am 29. April 2011 um 22:43 Uhr
Großartiger Text. Habe ich zum Glück nie in der Schule gelesen…