In Santa Cruz:
Überflüssiger Bücherkauf mit Gottfried Benn
Stanford, 20. Mai 2011, 12:02 | von Srifo
Aus dem Regen flüchten wir in den etwas größeren Buchladen auf der Pacific Avenue in Santa Cruz, nicht in den weiter unten, der den schönen Grabbeltisch »What is Santa Cruz Reading?« hat, sondern wir gehen zu »Logos«.
Aus parallelem Heimweh hatte mich letztens dort ein Kochbuch interessiert, in dem eine Exilitalienerin aus dem nahegelegenen Oakland eine Gaumenhommage an ›ihr‹ Kalabrien schreibt, wie man abgezogene Tomaten einweckt etc. Auch heute hoffe ich auf derartige Fünde.
Ich habe einen Benn-Band dabei, »Sämtliche Erzählungen« (Rowohlt), runtergekommenes Exemplar mit sich von allein abfriemelndem Zellophan, dem untrüglichen Zeichen der Bücher der Nachkriegsjahrzehnte. Trotzdem bleibe ich noch auf der Trittmatte von »Logos« in der Hoffnung stehen, dass der Cashier mich als Buchmitbringer wahrnimmt.
Denn »Logos« hat neben Verlagsfrischem nicht nur eine nette Sammlung vertonten Wortes, womöglich um in schamvoller Ehrerbietung Heideggers der Tiefenetymologie des Ladentitels (»Sammeln«, »Rede«, »Wort«) nachzukommen, sondern ebenfalls Bücher für den Zweitbesitz.
Während ich mich wie zufällig von der Matte aus zum »Bargain Books«-Stelltisch neige, erwarte ich daher in sozialfühliger amerikanischer Manier, dass der Nick–Cave-scheitlige Kassentyp den leicht herausgeschobenen Benn unter meinem Arm sieht und ihn als bereits beim Zutreten zu mir gehörig zählt.
Unter meinem so gestellten Blick dorthin öffnet sich aber plötzlich eine Möglichkeit, das Manöver unbedingt gewinnbringend zu vollenden, denn ich sehe »Les Planches courbes« von Yves Bonnefoy, immerhin in der »Bilingual Edition« für $5.98, und stecke es neben Benn an meine Seite. Bonnefoy taugt leicht als Pfand dafür, später beim Kauf auf jeden Fall mit dem »Logos«-Kassenwärter in eine seinerseits willkommene Interaktion zu gelangen. Den Benn könnte ich wie beiläufig dann mit »already mine« ausweisen.
Einer meiner Schuhe ist innen nass, und draußen regnet es immer noch, ich setze mich also wartend auf einen Einräumhocker in »Used Lit. Crit.« und lese eben Benns »Weinhaus Wolf«. Da unten finde ich aber dann bei »Intl.« zwischen »Portuguese« und »Russian« wie handverlesen den Debris deutschsprachiger Exilbibliotheken: Die Jahrgänge 1983 bis 1988 von »Kakteen und andere Sukkulenten«, dem »monatlich erscheinenden Organ der Deutschen Kakteen-Gesellschaft; der Gesellschaft Österreichischer Kakteenfreunde; der Schweizerischen Kakteen-Gesellschaft«; auf dem Brett darüber sogar das komplementäre Kakteenkompendium.
Weiterhin lockt unter den nicht einmal drei Dutzend Bänden: »Attis, seine Mythen und sein Kult«, die Dissertation des späteren Mitherausgebers der »Hessischen Blätter für Volkskunde«, Hugo Hepding, verlegt bei der J. Ricker’schen Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann) GIESZEN im Original von 1903 (die anbetrachts der frisch gefüllten Stempelkarte des Harvard-Exemplars offenbar ungebrochen ein Standardwerk ist).
Es gibt auch Kanon im »Logos«, einen Insel-Goethe und Leder-Rilke, aber, recht verwunderlich, sogar den leinenen Band 1 der großen gelbschnittigen Löwener Husserl-Ausgabe »Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge« von 1950. Für $14 ein Topf Gold, denke ich und packe ihn zu Bonnefoy und Benn.
Gekauft habe ich letztlich dann noch den ’67-Klassiker »Hegel im Kontext« (»Wer Hegel verstehen will, der ist noch immer mit sich allein.«) und eine ›beriebene‹ »Publikumsbeschimpfung«, der in zittrig zartem Blei erläuternd »insult!« auf dem Titelbogen notiert ist. Beide edition suhrkamp in grün und angesichts der am Orte beheimateten linken Reformuni aus den 60ern (»das Bielefeld im Golden State«), beide von derselben germanophilen Revolutionärin der Neuen Welt angelegt (fraglich, ob die UCSC-Hegelianer Fluch oder Segen für den »Logos« sind).
Wegen der schön übersättigten Farben blättere ich noch mal durch die Sukkulentendrucke und kehre dann zurück zu Nick Cave, zahle und winke einvernehmlich und vielsagend mit meinem Benn. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber draußen drückt mir eine nasse Trottoirdelle gleich wieder Wasser durch die Sohle, und während wir einige Blocks später im gefüllten Hipstercafé »Pergolesi« ankommen, stößt es mir aus dem »Weinhaus Wolf« auf:
»Individualitäten! Orgasmus zu seiner Stunde, später Weihwasser, auch Teilnahme an Festen. Berufsgruppen! Besteigen nachmittags einen Zug, Geschäftsreise, Geschmack von Rauch, etwas Kühle im Coupé, Landschaft streicht vorüber, Dämmerung –, Tage und Existenzen! Parallele: schuldlos geschiedene Blondine, Mann Syndikus, jetzt Broterwerb ausgenossene Gattin.
Gespenster! Leere! Gliedloses Gewoge! Cäsarisch am Schlips: rotkariert, nicht Punkte; Eigenblust im Römer: Obstsaft, keinen Federweißen! Reize, Gewohnheiten, Verstimmungen der Höchstfall von Besonderheiten! Fruchtwerdendes, anlagemäßiges Müssen nie.«
Usw.
Am 23. Mai 2011 um 07:35 Uhr
ich danke für das wort „einräumhocker“! boah!! und mit welcher selbstverständlichkeit platziert. muss mir unbedingt auch einen text ausdenken, wo ich dieses wort verwenden kann.