Loblied auf Lehrte
Berlin, 29. Juni 2011, 16:02 | von JosikDamals, am Ende ihrer Rede zur Einweihung des Berliner Hauptbahnhofs, als im Beisein des dann auch im sanierten Dresdner Hauptbahnhof wieder zum Einsatz gekommenen Hauptbahnhofeinweihungsmoderators Cherno Jobatey die Bundeskanzlerin Angela Merkel wörtlichst diese volkstümlichen Worte sprach (ab 9:20 Min.):
»Ich freu mich drauf, wenn ich mal gar nix mehr im Kanzleramt abends zu essen bekomme, entweder einen Döner oder bei McDonald’s vorbeizuschauen, oder – jetzt krieg ich gleich wieder Ärger – auch in einer deutschen Bulettenbude oder wie man das hier nennt, wahrscheinlich etwas gehobener«,
… damals also gab es noch eine Menge Berliner Ureinwohner, die zum einen die Currywurst in dieser kulinarischen Aufzählung vermissten und zum anderen sich fest vorgenommen hatten, auch weiterhin vom ›Lehrter Bahnhof‹ zu sprechen, statt den albernen Mehdorn’schen Neologismus ›Hauptbahnhof‹ zu benutzen.
Freilich ist vom ›Lehrter Bahnhof‹ heute keine Rede mehr, ebensowenig wie von der ehemaligen ›Frauenhaftanstalt Lehrter Straße‹, die sich damals in unmittelbarer Nähe des heutigen Berliner Hauptbahnhofs befand und aus der bekanntlich Inge Viett ausgebrochen ist, um dann später in die DDR rüberzumachen. Es scheint da einen ominösen Zusammenhang zu geben zwischen DDR-Sehnsucht und Lehrte. Auch der Schriftsteller Ronald M. Schernikau, ein gebürtiger Lehrter, hat sich ja noch 1990 in die DDR einbürgern lassen.
Sonst ist Lehrte hauptsächlich leider nur dadurch bekannt, dass Hiltrud Schröder sich dort hat scheiden lassen, genauer gesagt: Hiltrud geborene Schwetje, geschiedene Schröder, nunmehr Hensen, so ähnlich wie man auch bei der ehemaligen jüngsten deutschen Bundesfamilienministerin aller Zeiten inzwischen korrekterweise von Claudia geborene Wiesemüller, geschiedene Nolte, nunmehr Crawford sprechen muss. Was Hiltrud Hensen angeht, so soll ihr Exmann Exkanzler Schröder über das Dach des ehemaligen Lehrter Bahnhofs, das Mehdorn eigenmächtig um 130 Meter verkürzt hatte, gesagt haben, es sehe aus wie eine abgebissene Currywurst.
Lehrte ist aber auch und vor allem der Geburtsort des Lyrikers ZaunköniG, der sich ganz und gar dem Sonett verschrieben hat. Jede Sonettdichterin und jeder Sonettdichter kann versuchen, im grandiosen Sonett-Archiv des ZaunköniGs, in dieser unerschöpflichen Fundgrube irgendwo zwischen Alexis Aar und Stefan Zweig unterzukommen und Selbstsonettiertes zu publizieren. Vielleicht die drei besten Sonettverse überhaupt stammen von Ferdinand Freiligrath:
Dann ruft er aus: »Sie ist die 2te Staël!
Sei sie nun sonsten Lea oder Rahel –
In sieben Jahren ist sie mein Gemahel!«
Das sind Reime, da kann die Neue Frankfurter Schule eigentlich einpacken. Gar in starckdeutschen Reimen reimt man in einem Sonettband mit dem Titel: »Um die Wurst«, in dem es auch um die von Schröder verlorene Bundestagswahl geht. Der Wurststand am Berliner Hauptbahnhof aber, der bis vor ein paar Tagen noch »Kantine« hieß, wurde nunmehr in »Wurststand« umbenannt. Und in Lehrte gibt es gar: einen eignen Wurst-Basar! Die lakonischste Liebeserklärung an Lehrte freilich habe ich in einem Exemplar der »Kleinstadtnovelle« gefunden, dem Debüt des natürlich ebenfalls im Sonett-Archiv vertretenen Ronald M. Schernikau. Ein unbekannter Wolf schreibt dort:
Am 29. Juni 2011 um 18:38 Uhr
Ein Drei(!)zeiler ist ja nur ein Viertel-und-Zwei-im-Sinn-Sonett, ha!
Am 29. Juni 2011 um 21:15 Uhr
wie viele stunden ich schon frierend
auf dem lehrter bahnhof stand,
ist nicht so dolle relevant.
Am 2. Juli 2011 um 12:16 Uhr
Peine und Lehrte sind ganz schreckliche Kaffs (Käffer?)
Am 2. Juli 2011 um 12:18 Uhr
Auch der Dreizeiler von esox ist zwar nett (und er bekommt unser aller Mitleid) – erfüllt aber keineswegs die Form eines Sonetts.