100-Seiten-Bücher – Teil 6
Friedrich Dürrenmatt: »Der Richter und sein Henker« (1950/51)
Konstanz, 6. Juli 2011, 15:13 | von Marcuccio
Krimi-Schullektüre – aber welcher Hundertseiter kann was für sein Schicksal. Und Richter hin, Henker her, mich faszinierte an diesem Buch nichts mehr als die ominöse Twannbachschlucht. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der ganzen Krimihandlung, aber auch so eine Art Landschaftsgrenze, zwischen Twann und Lamboing. Trennt das Berner Seeland vom Jura, die Deutschschweiz von der Welschschweiz.
Dass zwischen einem Dorf und dem nächsten eine Sprach-, aber keine Landesgrenze verlaufen konnte, das war für einen Neuntklässler mit »Französisch fakultativ« schon das Maximum der Schweiz-Exotik. Erst Jahre später begriff ich: Die Schlucht – durchflossen vom Twannbach, französisch Douanne, also quasi douane – ist Dürrenmatts kleiner Röstigraben.
Wenn Kommissär Bärlach von Bern ins Jura-Dorf ermitteln fährt, sagt er beharrlich Lamlingen statt Lamboing. Und wenn der Dorfpolizist von Lamboing mit Bern deutsch sprechen muss, »eine Sprache, in der es ihm nicht ganz geheuer war«, kriegt er schlechte Laune. An einer Stelle ist auch von »Separatisten« und der »Jurafrage« die Rede. Aber das alles hat mit dem Krimiplot nichts zu tun. Im Gegensatz zur Lamboing-Anfahrt der Ermittler, die von Bern aus entweder linksdrehend oder rechtsdrehend um den Bieler See möglich ist: zum literarischen Geocaching wie geschaffen.
Im Übrigen ein Krimi für SZ-Leser: Die Leiche, ein Polizist, führte ein Doppelleben als Spion. Deckname seiner Investigativexistenz: »Doktor Prantl, Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte in München.«
Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Roman. Mit 14 Zeichnungen von Karl Staudinger. 2691.–2730. Tsd. Hamburg: Rowohlt 1985. S. 5–118 (= 114 Textseiten).
Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Kriminalroman. In: ders.: Die Kriminalromane. Zürich: Diogenes 2011. S. 7–158 (= 152 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)