100-Seiten-Bücher – Teil 7
Fjodor Dostojewski: »Weiße Nächte« (1848)
St. Petersburg, 13. Juli 2011, 12:30 | von Paco
Der Insel-Verlag hat für seine Ausgabe vor Jahren den bisherigen Untertitel des Romans geändert: »Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers« wurde zu: »Eine Liebesgeschichte«. Eine taktisch gelungene Aktion, auch wenn es sich um eine Liebesgeschichte ohne Happy End handelt. Sie geht eigentlich erst mal ganz gut los, abenteuerlich fast. Ein junger Mann rettet das Fräulein Nastenka vor einem befrackten Unhold, und dann setzen sich Retter und Gerettete in die helle Petersburger Nacht und plaudern.
Insgesamt haben sie vier weiße Nächte zusammen, bis Nastenka mit ihrem ursprünglichen und eigentlichen Traummann abzieht, der dann nämlich wider Erwarten doch noch erscheint – was für eine Wendung des Schicksals! Dabei hatte es so gut ausgesehen, auch wenn der Träumer zwischenzeitlich sehr langwierig von seinen Träumereien erzählt und zum Beispiel auch gleich E. T. A. Hoffmann erwähnt hat, was man vielleicht nicht gleich bei einer der ersten Begegnungen tun sollte.
Ich habe das Buch wieder mal im Zug gelesen, auf einer knapp dreistündigen ICE-Fahrt. Um mich herum waren sechs Frauen eines Strickvereins gruppiert (Zugsocking), ein Setting, das so gar nicht zu meinem Buch passte. Als ich nach Beendigung der Lektüre das Ohropax herausnahm, hörte ich als erstes folgende Sätze: »Ich stricke doch hier keine Ferse! Im Zug kann man doch keine Ferse stricken!«
In der Bemerkung lag allerdings mehr empirische Erkenntnis als im ganzen Dostojewski-Buch, auch wenn das jetzt vielleicht nicht so sehr vergleichbar ist. Es geht übrigens fast schneller, das Buch durchzulesen, als Viscontis Verfilmung zu schauen. Und wenn man auch noch das russische Original zur Hand nimmt, ist die Geschichte noch mal um 33.000 Zeichen kürzer, man spart also ein Viertel der Lesezeit!
F. M. Dostojewski: Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers. Übertragen von Hermann Röhl. Nachwort von Michael Wegner. Mit 8 Zeichnungen von Irmgard Zoll. Leipzig: Insel-Verlag 1969. S. 4–95 (= 92 Textseiten, abzgl. 8 Seiten mit den Zeichnungen).
Fjodor M. Dostojewski: Weiße Nächte. Eine Liebesgeschichte. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. Frankfurt/M.; Leipzig: Insel Verlag 2002. S. 7–110 (= 104 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 13. Juli 2011 um 17:44 Uhr
Eta Hoffmann kann durchaus erwähnt werden, ebenso sollte bei der ersten Begegnung unbedingt der Name ‚Jean Paul‘ fallen. Minuspunkte sammelt man eigentlich nur mit Krausser. Frag mich nicht, warum das so ist; es ist empirisch erwiesen.
Am 14. Juli 2011 um 09:52 Uhr
Eine interessante Information, dass das russische Original wesentlich kürzer ist, aber auch dass man um keinen Preis Fersen im Zug stricken kann. Wunderbar :-)
Ich gehe mal davon aus, dass Sie Dostojewski interessiert. Schauen Sie soch hier einmal vorbei: http://dostojewski.npage.de/
Am 6. August 2011 um 18:14 Uhr
Fürchterlich. Grund: Zu realistisch!