100-Seiten-Bücher – Teil 10
Giorgio Bassani: »Die Brille mit dem Goldrand« (1958)
Düsseldorf, 31. Juli 2011, 07:07 | von Luisa
Im Februar 1994, als er noch für die FAZ schrieb, besuchte Gustav Seibt den italienischen Autor Giorgio Bassani in Rom. Der Besuch verlief eher bizarr und endete mit einem plötzlichen Kuss Bassanis (damals 77 und unterwegs in die Demenz) auf die junge Wange des Kritikers. Der Dichter küsste das Feuilleton, das Feuilleton erwiderte den Kuss durchs Wort: Seibts Bericht, erst ein Jahr später erschienen, trug den Titel »Der Kuss« und glimmerte zwischen Grusel und Verehrung.
Alle Romane Bassanis spielen in Ferrara, wo der Autor seine Kindheit und Jugend verbrachte. Ferraras Altstadt mit Duomo, Castello und Stadtmauer ist UNESCO-Weltkulturerbe, dennoch: Ferrara never quite made it. Es liegt abseits. Kein schiefer Turm, keine Arena. Die Stadt lebt für sich und ist wunderschön.
Der Besitzer der Brille mit dem Goldrand, ein venezianischer Ohrenarzt namens Dr. Athos Fadigati, lässt sich 1919 in Ferrara nieder. Zunächst wird er freundlich aufgenommen, später ausgegrenzt. Er wohnt und ordiniert gleich hinter dem Dom, an der Kreuzung Via Bersagliere del Po/Via Garganello. Diese Wohnung gibt es noch, man steht vor dem Haus, schaut hinauf und fragt sich, ob man klingeln und um eine Nasenspülung oder um einen Kuss bitten soll. Der Roman erschien 1958, das ist lange her und vielleicht ahnt der heutige Mieter gar nicht, dass er einen fiktionalen Mitbewohner hat. Der Jude Bassani überlebte den Faschismus in Rom und kehrte nicht nach Ferrara zurück.
Zart wie der Roman, aber minder melancholisch ist die lokale Pasta-Spezialität: cappellacci di zucca, mit Kürbis gefüllte Ravioli. Gute Geschichten sind düster, Unrecht verbittert. Trost spendet die Küche.
Giorgio Bassani: Ein Arzt aus Ferrara. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. München: Piper 1960.
Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. München: Piper 1985. S. 3–105. (= 103 Textseiten)
Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Berlin: Wagenbach 2007.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)