100-Seiten-Bücher – Teil 12
Ludwig Wittgenstein: »Tractatus Logico-Philosophicus« (1921)
Düsseldorf, 18. August 2011, 10:15 | von Luisa
Dem »Tractatus« nähert man sich am besten durch die Türen des Hauses, das Wittgenstein für seine Schwester in Wien baute. Die Türen sind sehr hoch und aus Glas und Metall. Kühl und erhaben weht uns aus ihnen die Abstraktion entgegen, und so eingestimmt und ergriffen ziehen wir das rote Suhrkamp-Bändchen aus der Tasche und lesen den ersten Satz: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.«
Das klingt erst mal sehr nachvollziehbar. Allerdings geht es dann weniger um die Welt als um deren Abbildung. Um Reinheit der Logik und Aussonderung des Bedeutungslosen, um Sagbares und endlich im letzten Satz um das, »wovon man nicht sprechen kann«.
Der »Tractatus« war 1918 vollendet und erschien 1921. Sein verständigster Leser wäre vielleicht nicht Bertrand Russell, sondern Kafka gewesen. Hätte Wittgenstein ihm doch eine Abschrift geschickt, als kaiserliche Botschaft und Traum von Träumer zu Träumer! Schon die Gewichtung der Sätze durch Zahlen hätte Kafka gefallen: endlich mal Ordnung im existenziellen Zores. Und die Idee, eine lange, komplizierte Deduktion aufzubauen, die sich am Schluss als unsinnig erkennt und selber wegstößt wie eine Leiter, hätte ihn entzückt.
Später schwor Wittgenstein dem System ab und erreichte nie mehr eine so lässige Selbstwahrnehmungshöhe: »Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«, schrieb er im Vorwort zum »Tractatus«. Diese Überzeugung besäßen wir auch mal gern, und sei es nur an unserem Todestag. Großer Seufzer.
Das Wiener Haus sollte 1971 abgerissen werden. Gerettet hat es die Volksrepublik Bulgarien. Sie nutzte es als Kulturinstitut, ließ es aber, wie es war: leer. Man kann es durchwandern, die Architektur auf sich wirken lassen und die weltberühmten Türklinken drücken. Und darüber nachdenken, was alles der Fall sein kann.
Ludwig Wittgenstein: Logisch-Philosophische Abhandlung. In: Wilhelm Ostwald (Hg.): Annalen der Naturphilosophie 14 (1921), S. 185–262. (= 78 Textseiten)
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicophilosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 18. August 2011 um 14:31 Uhr
Ein wunderbarer Hinweis – und zumindest persönlich aktuell. Einen schönen, das Haus Wittgenstein thematisierenden und, wenn man die Abbildungen abzieht, ebenfalls kaum mehr als 100 Seiten langen Essay hat Jan Turnovsky geschrieben. (http://www.amazon.de/Bauwelt-Fundamente-Bd-77-Poetik-Mauervorsprungs/dp/3528187778)