Room 59, der Saal des Gurkenmalers
London, 31. Oktober 2011, 09:00 | von DiqueIm Room 59 der National Gallery in London hängen 14 Gemälde von Carlo Crivelli, zweite Hälfte 15. Jahrhundert, mit ausschließlich religiösen Inhalten. Vasari widmete Crivelli kein Künstlerleben, auch sonst ist fast nichts über ihn bekannt. So muss Carlo Crivelli durch seine Bilder zu uns sprechen, deren Faszination man sich, laut Informationen der deutschen Wikipedia, nur schwer entziehen kann. Im selben Artikel heißt es weiter:
»Eine ganz besondere Vorliebe entwickelte er für Dekorationen und prachtvolle Ornamente, mit denen er seine Bilder oftmals völlig zu überladen pflegte. Hierzu gehören auch die auf vielen Gemälden vorhandenen Gurken, die eine nahezu surrealistische Wirkung hervorrufen.«
Crivellis Leidenschaft für die Gurkenmalerei hatten wir bereits erwähnt, als wir während einer UMBL-Dienstreise nach Neapel auf den berühmten Birnenmaler Bartolomeo Bimbi zu sprechen kamen. Nun bin ich wegen der Crivelli-Gurken noch einmal in den Room 59 in der National Gallery gegangen.
Auf fünf der 14 Gemälde, also auf mehr als einem Drittel, hat Crivelli mindestens eine Gurke untergebracht. Und auf allen diesen Gurkenbildern ist auch eine Madonna zu sehen. Dagegen handelt es sich bei den gurkenlosen Bildern um Portraits von Heiligen bzw. in einem Ausnahmefall um ein Bildnis des Heilands selbst, »The Dead Christ supported by Two Angels«.
Da man es in der Kunstgeschichte höchst selten mit der Gurke zu tun bekommt, selbst auf Stillleben ist sie kaum zu finden, stellt sich natürlich die Frage nach der Ursache dieser Gurkenmanie. Diese verschwenderisch gemalten grünen Phallusse könnte man irgendwie als Empfängnissymbol deuten, das würde deren Präsenz auf den Madonnenbildern erklären und deren Abwesenheit auf den Heiligenportraits. Ansonsten hat man versucht, sie als Symbol für Auferstehung oder Ursünde zu deuten, aber »nessuna delle interpretazioni risulta convincente«.
Jede banale Erklärung würde die einmalige Crivelli’sche Gurkenleidenschaft auch unnötig entzaubern, und so einfach ist es auch nicht, schon weil es für die Gurke keine Bildtradition gibt. Crivelli hat sich ganz bewusst für die Gurke entschieden, aber kein anderer Madonnenmaler seiner oder irgendeiner andern Zeit hat es ihm gleichgetan.
Nach beinah einer Stunde mit Crivelli und seinen Gurken konnte ich mir an diesem Tag keine weiteren Gemälde mehr ansehen. Es war Mittagszeit und ich hatte einfach nur Appetit auf einen frischen Gartensalat.
Hier noch die Bildfolge im Room 59, im Uhrzeigersinn, angefangen beim erwähnten Christusgemälde:
1. The Dead Christ supported by Two Angels
2. The Vision of the Blessed Gabriele
3. The Immaculate Conception (Gurke)
4. Saint Catherine of Alexandria
5. Saint Mary Magdalene
6. Saints Peter and Paul
7. The Virgin and Child (Gurke)
8. Saint Jerome
9. Saint Peter Martyr
10. Saint Michael
11. Saint Lucy
12. The Virgin and Child with Saints Francis and Sebastian (Gurke)
13. La Madonna della Rondine (Gurke)
14. The Annunciation, with Saint Emidius (Gurke)
Am 31. Oktober 2011 um 15:18 Uhr
Phallus-Gurke klingt überzeugend, zumal grün plus Madonna. Finde es sehr beruhigend, dass es noch Menschen gibt, die auf sowas achten! Danke also!
Am 31. Oktober 2011 um 18:31 Uhr
Was für merkwürdige Gurken sind das denn? Gelb und dick und picklig statt grün und glatt und schlank? Ist da ein Schuss Kürbis oder Melone dabei? Frühe Halloween-Anspielung? – Aber genussvoll zu lesen!
Am 31. Oktober 2011 um 19:46 Uhr
Erstaunlich!
Am 11. Februar 2014 um 19:50 Uhr
ich fand den Artikel sehr spannend. Wundere mich schon seit Jahren über die Gurke in Crivellis Altarretabel in der Berliner Gemäldegalerie. Hab keine überzeugende Idee was er damit meint.
Am 27. Februar 2014 um 10:21 Uhr
Als ich das Bild in der Gemäldegalerie Berlin sah, habe ich mir Folgendes aufgeschrieben: wieso eine Gurke als Symbol der unbefleckten Empfängnis Mariens? Ein Hinweis gab es wohl in der Audioguide, aber ich habe mir keinen Reim daraus machen können. In der Bibel (http://www.bibleserver.com/#/search/EU/Gurke/1)kommt das Wort ‚Gurke‘ viermal, aber ich kann den Zusammenhang nicht erkennen.