Vor 10 Jahren im »ZDF nachtstudio«:
»Fernsehen I bis III« (Rainald Goetz & Comp.)
Leipzig, 11. Dezember 2011, 18:20 | von Paco
Viele schauen das »ZDF nachtstudio« nur wegen Volker Panzer und seinen grauen Anzügen, grauen Krawatten und dunklen Hemden. Die Show läuft jetzt schon seit 1997, sie ist immer noch und immer wieder spitze, aber der absolute Höhepunkt bleiben die drei Sendungen vom September 2001, die unter dem Titel »Fernsehen I–III« liefen (alle bei YouTube).
Das dort ausprobierte Format geht zurück auf das beste Buch der letzten 25 Jahre (mindestens), nämlich »Dekonspiratione« von Rainald Goetz, in dem Folgendes geplant wird: »Eine wöchentliche Talkshow übers Fernsehen. Drei feste Leute, ein Gast, fünf vorher festgelegte Sendungen der vergangenen Woche, die dann nach Art des literarischen Quartetts diskutiert werden.«
Und nach diesen Regeln wird die Show im ZDF dann auch umgesetzt. Die festen Leute sind der Showerfinder Rainald Goetz, sein Wingman Moritz von Uslar und der Moderator Volker Panzer. Ein von Anfang an eingespieltes Dreamteam mit klarer Rollenverteilung, Panzer z. B. spielt den Kulturkonservativen und spielt ihn gut, und auch die drei Gäste, aus Quotengründen alles Frauen, sind genial gecastet: Alexa Hennig von Lange, Klaudia Brunst, Barbara Sichtermann.
Die erste Folge …
… läuft am 5. September 2001. Im Rückblick ist schon diese Eröffnungssendung unheimlich, 9/11 dräut ja am Horizont. Dieses Gefühl der Unheimlichkeit ist aber noch nichts gegen die dann am 12. September 2001 wirklich und tatsächlich stattfindende zweite Folge. Die wollte ich erst gar nicht wieder sehen, aber ich musste mich ihr natürlich aussetzen, um dann hier davon berichten zu können.
Doch jetzt erst mal Folge 1, die Einar Schleef gewidmet ist. Bei bzw. vor bzw. neben Goetz sind Zeitungen und Bücher ausgebreitet, es ist die schönste Grundierung, die sich überhaupt denken lässt. Besprochen wird u. a. die Sendung »Kulturzeit« auf 3sat, und alle machen sich über die damals gerade neu eingesetzte Moderatorin Tina Mendelsohn her, und Moritz von Uslar sagt den wahrscheinlich besten und nachvollziehbarsten Satz, der in den gesamten Nuller Jahren gefallen ist: »Ich will nicht eine Sendung sehen, wo eine Moderatorin sagt: ›Ich hab in der New York Times gelesen, dass –‹«
Insgesamt wird die »Kulturzeit« aber doch für gut und toll befunden. Und Goetz liefert auch noch gleich den zweitbesten Satz der Sendung nach, anlässlich eines »Kulturzeit«-Interviews: »Das ist wirklich ein Problem, dass alle Schauspielerinnen so dumm sind, das ist unerträglich.« Und es ist auch gar nicht polemisch oder ironisch gemeint, das muss man sich wirklich ansehen, wie das rüberkommt, es ist wie im »Abécédaire« von Deleuze, wenn er etwa sagt, der Hund sei der Abschaum der Tierwelt, es ist einfach eine sehr fein herausgearbeitete These inklusive mitgelieferter Beweiskette.
Über einen Artikel von Matthias Altenburg in der »Zeit« sagt Goetz: »Es ist ein Kracher, der Artikel, aber ich find, dass er sozusagen im Einzelnen nicht stimmt.« So muss über Feuilleton sowieso geredet werden, völlig überzogene Affirmation, die Feier des Glücks, dass da was auf Papier oder sonst wohin gedruckt wurde, und es dann unerwarteterweise doch irgendwie nicht stimmt und dass es trotzdem da steht. Und es ist so herrlich, wie Alexa Hennig von Lange an einer anderen Stelle Goetz widerspricht, es gibt da überhaupt kein böses Blut, es ist einfach der allerschönste Dissens, so wie Dissens sowieso am besten funktioniert, wenn er schön ist und nicht hässlich.
Moritz von Uslar lobt anschließend die sozialen Momente der RTL-Reality-Show »Gestrandet« (»Das ist das Beste von den Sachen, die wir heute besprechen, das Interessanteste und Avancierteste.«). Und Goetz fasst die Erfahrung Fernsehen für uns Heutige noch mal zusammen, wo wir gar nicht mehr wirklich wissen, wie das war damals, als wir noch Fernsehen gekuckt haben: »Fernsehen ist dazu da, um Erinnerung zu vernichten. Man kuckt die Sachen und weiß am nächsten Tag, Moment, was war gestern Abend eigentlich, was war da so angenehm, was ich gesehen habe?«
Das »nachtstudio«-Experiment also funktioniert auch nach 10 Jahren noch, man kann diese erste Sendung immer wieder und wieder sehen, genau wie den Auftritt von Rainald Goetz bei Harald Schmidt im April 2010. Aber dann:
Die zweite Folge …
… vom 12. September 2011 2001 (hier bei YouTube). Sie ist, wie gesagt, kaum auszuhalten. Weil man weiß, dass z. B. Harald Schmidt am 9/11-Dienstag nicht aus der Sommerpause zurückgekehrt ist, dass er eine Weile nicht auf Sendung gegangen ist, und es retrospektiv eine der wirkmächtigsten Entscheidungen der dt. TV-Geschichte gewesen ist, für die es einen Grimme-Preis der Abteilung »Spezial« gab.
Aber »Fernsehen II« ging auf Sendung. Zunächst wird Luhmann zitiert, wird 9/11 als ultimative Bestätigung seines Satzes interpretiert: »Was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.« Dem Ad-hoc-Gespräch über 9/11 setzt Goetz zum Glück sofort enge Grenzen, das rettet dann doch die Sendung: »Und ich will nur einfach nur noch eins kurz sagen. Dass wir uns wirklich zurückhalten sollten mit dem Versuch von Einschätzungen, weil uns das absolut überfordert und weil unsere Fähigkeiten der Analyse des Fernsehens, finde ich, das wirklich nicht erreichen, was da –«
Beobachtungen zusammentragen, mehr geht erst mal nicht. Nach 20 Minuten wird das 9/11-Thema abgebrochen und über die vorher ausgemachten Sendungen gesprochen, Goetz referiert die Günther-Jauch-Samstagabendshow »Der große IQ-Test« auf RTL. Und schon damals wird die Jauchlosigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens beklagt (darum sei die IQ-Show nicht auf ARD oder ZDF gelaufen, mangels eines Moderators, der so eine Sendung quasi »mit seinem Gesicht« halten kann).
Die eingeladene Klaudia Brunst stellt dann »Herrchen gesucht« vor: »Es ist eine Tiersendung vom Hessischen Rundfunk, die es schon seit 26 Jahren gibt. (…) Ich sehe diese Sendung sehr gerne.« Goetz und Uslar finden die (mittlerweile abgesetzte) Schau deprimierend und traurig und falsch, es gibt eine entspannte Brandrede gegen die Emotionsarbeit des Fernsehens: »Ich will nicht so bedrängt werden.«
Und eine schöne Beobachtung zu »Beckmann« gibt es noch (besprochen wird die damals aktuelle Sendung mit Ulla Schmidt, Paul Sahner, Wladimir Klitschko). Und zwar beobachtet Goetz sehr fein Beckmanns schon per Körperhaltung angedeutetes »Reinschlupfen« in seine Talkgäste.
Die dritte Folge …
… kommt am 19. September 2001 (hier bei YouTube). Zu Gast ist Barbara Sichtermann, die ich damals nur als Figur aus Stuckrad-Barres »Blackbox« kannte (»Sichtie«).
Es geht u. a. um »Sex and the City«, die erste Staffel von 1998, die am 18. September 2001 auf ProSieben Premiere hatte. Goetz findet die Serie und das mitgelieferte Bilder- und Themenarsenal schon »extrem historisch« (»es ist so fucking alt, es ist so dated«). Panzer fragt: »Würden Sie denn diese Serie auch freiwillig weiterkucken?« Goetz (enthusiasmiert von Sichtermanns Analyse): »Ja, ehrlich gesagt ja, komischerweise.« 2001, das ist auch kurz vor dem Zeitpunkt, als in Deutschland das Serienjunkiewesen beginnt, was mit SATC ja auch etwas zu tun hat. Plötzlich konnte man wildfremde Menschen z. B. fragen, ob sie »Six Feet Under« s04e05 gesehen haben usw., das waren plötzlich Referenzpunkte wie Bibelstellen.
In »Fernsehen III« liefert Goetz sonst noch eine schön anzuhörende Strukturanalyse von »Sabine Christiansen« (Sichtermann: »Ich sehe die Sendung nicht so gerne. Sie ist mir zu behäbig und die Moderatorin zu …« – Goetz: »… betrunken vielleicht?«). Es ging in der »Christiansen«-Sendung natürlich um 9/11 und die Folgen, und Goetz lobt in einem Anfall von Systemtheorie den verklausulierten, staatstragenden Gestus der talkenden Politiker, Schilys zum Beispiel:
(zu Sichtermann:) »Ich finde nur, das, was Sie da angreifen an dem gesetzten Talk der Politiker, das hab ich grade in der Sendung jetzt noch mal so richtig verstanden und gut gefunden, weil es sozusagen darum geht, dass die künstliche Intelligenz der Institutionen quasi angezapft wird. Es geht jetzt nicht darum, was Schily als Person denkt, sondern es geht darum, dass diese Probleme eingespeist werden – das findet jetzt eben statt – in Apparate. Kein einzelnes Bewusstsein ist in der Lage sozusagen, die Konsequenzen zu überblicken, das denken zu können, das verstehen zu können, aber Kommunikation als Ganzes, diese Art von künstlicher Intelligenz, die da jetzt zu marschieren anfängt, und das sah man da so extrem. Es gab dann ja auch sofort in der FAZ von Mark Siemons einen Artikel darüber, dass Schily, und Fischer übrigens auch, bei ntv, dass die sozusagen die Diskurse abblocken. (…)«
Es geht dann auch noch um die ausgebliebene Harald-Schmidt-Show, es kommt zu folgendem Dialog:
Goetz: Wir haben ja sozusagen gewartet, schon letzten Mittwoch bin ich hier reingekommen und hab gesagt: Was macht Harald Schmidt? Sozusagen ich warte bereits seit einer Woche drauf: Wie tritt er vor die Leute, was passiert?
Uslar: Ich bin gleichzeitig irre gespannt und kann gleichzeitig auch verstehen, dass er im Moment nicht sendet. Die Amerikaner senden auch nicht im Moment, das ist so ein Argument –
Goetz: Die amerikanischen Talkshows laufen nicht, oder wie?
Uslar: Nee, Leno und Letterman senden nicht.
Goetz: Ah, das ist ja interessant.
Uslar: Und das ist sicher ein Argument für die, die –
Goetz (unterbrechend): Woher weißt du das?
Uslar (mit Understatement gehaucht, absolut sympathisch): Das hab ich in der Zeitung gelesen.
Goetz (sehr, sehr heiter).
Am Schluss dieses dreifolgigen »nachtstudio«-Experiments wird noch gefragt: »Ist das Fernsehen als Ganzes vielleicht das größte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts überhaupt?« Wenn man das damals vor 10 Jahren mit Enzensbergers »Nullmedium«-Idee im Hinterkopf als provokant empfunden haben könnte, ist es heute eine noch berechtigtere Frage, aus historischer, aus kunsthistorischer Sicht, denn das 20. Jahrhundert ist ja genauso vorbei wie das Fernsehen as we knew it.
Ich habe die drei Sendungen noch irgendwo auf VHS, aber im Moment keine Zeit, um sie ins Museum historischer Abspielgeräte zu bringen. Deshalb ein großer Dank an den Uploader alexomat2, und hier noch mal der LINK zu diesem Goldnugget der TV-Geschichte.
Am 13. Dezember 2011 um 09:41 Uhr
„Die zweite Folge …
… vom 12. September 2011 (hier bei YouTube).“
Gemeint ist wohl eher der 12. September 2001. Kann aber mal passieren – Bildblog hat diese Angabe übrigens auch falsch übernommen.
Am 13. Dezember 2011 um 12:02 Uhr
Es würde mich mal interessieren, wa sie zu der Einsicht bringt, der Verzicht von Sat1, der Harald Schmidt-redaktion oder wem auch immer, die Show am 11.09.2011 zu senden sei eine der wirkmöächtigsten Entscheidungen der dt. TV-Geschichte gewesen. Wie hat sich diese Wirkmacht den geäußert? Ich würde mal behaupten die Entscheidung von Thomas Gottschalk wetten dass nicht weiterzumachen hat eine wesentlich größere Wirkmacht entfaltet. (Von Entscheidungen wie das Farbfernsehen einzuführen, die Mondlandung zu übertragen etc. mal ganz abgesehen).
Ob die Entscheidung, vor dem terror zu kapitulieren und sich zu verkriechen die richtige ist, wage ich zu bezweifeln. In so einem Fall hat der Terror erreicht was er wollte, er bestimmt unser Leben.
Dann doch lieber eine offensive Auseinandersetzung mit dem Thema, wie in der kritisierten Sendung. dass die Auseinandersetzung nicht auf höchstem Niveau gewesen sein mag, mag der Kürze der zeit geschuldet sein. Auch ihr Kritikpunkt, dass nicht ausschließlich nur 9/11 behandelt wurde ist zu verwerfen. Denn wie schion gesagt, wenn wir uns von Terroristen diktieren lassen, mit welchen Themen wir uns auseinandersetzen , hat der terrorismus gesiegt.
Die Sendepausen verschiedener Sendungen fand ich heuchlerisch und peinlich. Damit wird die Bedeutung des Terrors nur gestärkt. zugleich ist eine solche Haltung Ausdruck unserer Unfähigkeit, mit soclchen Ereignissen umzugehen.
Am 13. Dezember 2011 um 12:05 Uhr
btw: die Beurteilung der Sendung vom 5. September unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September ist grober Unfug Was soll das?
Am 13. Dezember 2011 um 14:35 Uhr
Ich kann nicht nachvollziehen, was genau beim Nachtstudio den Zuschauer so euphorisch jubeln lassen kann wie den werten Herrn Autoren, hier. Bei der Sendung handelt es sich aus meiner Sicht um eine Plattform für wenig originelle und – vor allem – reichlich verwässerte Argumentationen. Gerade letzteres würde mich (wenn ichs denn schauen würde) ärgern, denn man schaut es doch (so meine naive Annahme) wegen der Argumentation.
Das Fernsehen wird vom Zuschauer auch garnicht nicht als Medium zur Förderung von Wachsamkeit oder zur Aufklärung benutzt, sondern zum „Abschalten“, zum Entspannen – und meinem Empfinden nach scheinen die Nachtstudio-Macher diesem Umstand Rechnung zu tragen.
Was bleibt? Wer sich kluge Gedanken zu Gemüte führen möchte, sollte es dann vielleicht mit dem Lesen probieren.
Am 13. Dezember 2011 um 17:00 Uhr
@Marek
Wenn man die Sendezeit des Nachtstudios im Auge hat (in der Nacht zwischen Sonntag und Montag ab ca. 00.15 Uhr) scheidet das Argument der Entspannung des Zuschauers aus. Der normale Zuschauer liegt dann längst zu Bett, weil er entweder am nächsten Tag zu arbeiten hat oder ein anstrengendes Wochenende hinter sich hatte. Im Vergleich zu anderen Gesprächssendungen sind die Argumente nicht derart verwässert, wie der Feuilleton-Aficionado dies von der Wendehals-FAZ gewohnt ist, aber natürlich längst nicht in Merkur-Qualität. (Darauf kann ich ehrlich gesagt auch verzichten.)
Der Hinweis auf das Lesen ist in diesem Zusammenhang ziemlich merkwürdig. Niemand würde eine als unglücklich empfundene Wein-Empfehlung eines Sommeliers mit dem Verweis auf ein anderenorts frisch gezapftes Bier kommentieren wollen.
Am 13. Dezember 2011 um 20:07 Uhr
Ich versuch mal das zu präzisieren – ganz ohne Polemik komme ich aber bei diesem Thema nicht aus… was ja – angesichts der Unwichtigkeit der Sache – auch so schlimm nicht ist.. und letztlich, da wir uns ja im Feuilleton-Kosmos befinden, sogar Genre-Konform.
Wer sich für das Nachtstudio entscheidet, der möchte gerne ein wenig beim Fernsehen entspannen, jedoch niveauvoll. Oder so. „Was kluges“ sehen. Ist natürlich nur meine Erfahrung. Aber ja immerhin schonmal etwas. Den Einwand der späten Sendezeit lasse ich da auch nicht gelten, denn ein Programm, das um 0.15 beginnt, eignet sich doch hervorragend zum „runterkommen“, oder gar als Einschlafhilfe.
Aber betrachten wir ruhig mal die andere Möglichkeit: Eine volle Stunde lang das ZDF Nachtstudio im völlig wachen Zustand ansehen. Also – entschuldigung, aber.. ich weiss nicht. Macht das jemand? Mich jedenfalls langweilen Allgemeinplätze, latente Harmlosigkeit und allzuoft zusammenhangsloses Phrasenpuzzle (hier mal n Zitat, da mal ne Anekdote) meist schon nach kurzer Zeit.
Das Lesen hatte ich nur ins Spiel gebracht, weil ich glaube, dass die Leute, die sich für das Nachstudio entscheiden, sich in eben dem oben angerissenen Zwiespalt befinden: Nicht anstrengen wollen, aber trotzdem das Niveau hochhalten wollen. Bei Sachthemen gilt: Das beisst sich eben oft.
Und da muss man sich dann eben auch manchmal einfach entscheiden – will ich mich jetzt ordentlich mit Moralphilisophie, mit Staatstheorie, Ökonomie, etc, beschäftigen? Buch. Oder lieber n bisschen entspannen? Fernsehen. Wie das weniger gebildete Volk. Ist doch nix, wofür man sich schämen muss.
(Es sei denn, man schaut eben das Nachtst…)
Am 13. Dezember 2011 um 21:09 Uhr
@Marek
Was das Fernsehen und deren Bewertung angeht, kommen Sie dann auch nicht ohne Allgemeinplätze aus. Immerhin.