Was Deutsch kann
Berlin, 22. Dezember 2011, 07:30 | von JosikAuch wenn im »Centaur«, dem Kundenmagazin der Drogeriekette Rossmann, gerne von ›Rossmannstadt Hannover‹ die Rede ist (so wie man ja auch von Lutherstadt Wittenberg spricht), befindet sich die Konzernzentrale gar nicht in Hannover, sondern in Burgwedel. Nicht in Burgwedel allerdings, sondern auf einem Schloss bei Dresden machte, von der literarischen Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt, Uwe Tellkamp die Kulturredakteurin der HAZ, Martina Sulner, anlässlich eines Interviews zur Sau.
Erschienen ist es in der Ausgabe 7/2011 des Kundenmagazins der Drogeriekette Rossmann. Dort beanstandet Uwe Tellkamp, dass in der ansonsten durchgehend positiven HAZ-Rezension seiner Schwebebahn auch Folgendes steht: »Tellkamp schreibt in der ersten Hälfte des Buches dermaßen geschraubt und gestelzt, dass es dem Leser auch auf die Nerven gehen kann. Die Sätze sind unendlich lang und verschachtelt, die vielen Sprachbilder oft schief und pathetisch.«
Die »Centaur«-Redakteure fragen ihn deshalb: »Ist das Geschraubte, Gestelzte, Verschachtelte für Sie eine dichterische Notwendigkeit? Oder wollen Sie Ihre Leser herausfordern und es ihnen möglichst schwer machen?« Sofort greift Uwe Tellkamp »nach der Ausgabe der ›Schwebebahn‹, die auf dem Tisch liegt, und liest« den Redakteuren des Kundenmagazins der Drogeriekette Rossmann zwar nicht die erste Hälfte des Buches, aber doch immerhin »den ersten Satz vor«. Dieser erste Satz lautet:
»Das Dresden meines Temperaturgedächtnisses ist eine Winterstadt voller Fernwärmerohre und Heizungen, von deren Rippen die Farbe abgeplatzt war; oft lag ich, ein Junge von zehn oder elf Jahren, nachts wach und lauschte den Flüsterstimmen der Gespenster, die in der Braunkohle wohnten und durch die Überredungskünste von Riesaer Sicherheitszündhölzern und Flammat-Kohleanzünder (weiß, hartseifig – oder braun und zäh wie ›Plombenzieher‹-Toffeebonbons) aus ihren tertiären Schlafstätten gelockt wurden.«
Nachdem Uwe Tellkamp mit dem Satz fertig ist, beginnt er eine Tirade, wie sie auch Joachim Lottmann nicht furioser hätte gestalten können:
»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich ist das ein Satz, der vollkommen klar ist. Es gibt Sätze, die komplexer sind, aber wenn Sie sie wirklich mal laut lesen, werden Sie hören, dass die Beziehungen der Nebensätze zueinander vollkommen klar sind, und darüber lasse ich nicht mit mir reden. Da hat die Dame kein Ohr. Das muss sie sich von mir sagen lassen. Da hört sie nichts, ist sie taub, da versteht sie nichts und weiß nicht, was Deutsch kann. Vermutlich ist sie an Hauptsatzprosa geeicht, die journalistisch funktioniert, damit Abonnenten und Werbekunden nicht abspringen.«
Das Kundenmagazin versucht daraufhin, Uwe Tellkamp zu beruhigen, wechselt das Thema und stellt ihm gleich vier Fragen hintereinander: »Was machen Sie, wenn Sie nicht schreiben? Ganz alltägliche Dinge? Kaufen Sie selbst ein? Beispielsweise bei Rossmann?« Uwe Tellkamp antwortet, nun wieder ganz entspannt:
»Ich bin doch ein ganz alltäglicher, normaler Mensch. Um halb Acht bringe ich meinen Sohn in den Kindergarten, dann kaufe ich auf dem Rückweg ein paar Semmeln, und bei Rossmann bin ich auch öfter. Da kaufe ich übrigens ab und zu auch mal eine DVD, denn es ist ganz schwierig für mich, mal in die Stadt reinzukommen.«
Am 22. Dezember 2011 um 09:59 Uhr
Ich halte Tellkamps Reaktion für in der Sache angemessen. Vielleicht sollte er aber ein bisschen großzügiger mit einer Zeitung sein, die Begriffe wie „Schwebebahn“ und „Sensationserfolg“ mit „Das-könnte-Sie-auch-interessieren“-Hinweisen unterlegt (ein Eishockey-Bericht auf „Sprachbilder“ – darauf muss man erst einmal kommen!) und Werbelinks einbaut.
Ich glaube, man muß von Glück sagen, dass Frau Sulner nicht mehr Heinrich von Kleist und seine langen und geschraubten Sätze rezensiert. Vielleicht hat sie ihn aber gar nicht gelesen, wie Frau Bünger.
(PS und OT: Im Vorschaufenster dieses Kommentars erscheint als Veröffentlichungsdatum der 22. Dezember 3630, 13:24 Uhr. Hat das mit den langen Sätzen indirekt zu tun?)
Am 22. Dezember 2011 um 13:55 Uhr
Majestätsbeleiddigung ist es natürlich, wenn jemand nicht wie bestellt fragt, was (Deutsch, in den allein auf Selbstgespiegelung angelegten Tiraden eines) Uwe Tellkamp kann, sondern fragt, ob diese ganze deutschlehrerfleißige, syntaktische, metaphorische, faktenhuberische Hypertrophiemaschine irgendeinen poetischen, menschlich anrührenden, also literarisch erinnerungswerten Sinn hat. Es gibt leider Leute wie mich, die nie mehr als drei Seiten dieser lauwarm ambitionierten Korrektheitsprosa ertragen haben. Darun: Bravo, Frau Sulner! – Vielleicht merkt doch nachgerade mancher, wieviel man den „Überredungskünste(n) von Riesaer Sicherheitszündhölzern und Flammat-Kohleanzünder(n) (weiß, hartseifig “ hätte anvertrauen können!
Am 23. Dezember 2011 um 09:25 Uhr
Ich schätze Herrn Tellkamp nicht besonders, ich tue ihm unrecht, weil ich sein Monumentalwerk bislang gar nicht gelesen habe und obwohl ich seine konkrete Reaktion anlässlich dieses Interviews nicht nur verstehen, sondern auch nachvollziehen kann, muss auch ein Autor sich der Konsequenzen bewusst sein, wenn er sich von einem Werbeblättchen interviewen lässt.
Am 23. Dezember 2011 um 10:04 Uhr
Tiraden, Tiraden
Ein „Kundenmagazin“ namens „Centauer“ von einer Drogeriekette – und dann ein Tellkamp-Interview? Sagt das nicht so Einiges über eine Kultur, der das Dichterische in Wirklichkeit längst abhanden gekommen ist und die es sich als Standortvorteil in Möchtegern-Qualitäten noch hier und da als Tüpfelchen-Trüffelchen zwischen der alles Sprach-Volumen überziehenden Reklamesauce serviert?
Was mir heute fehlt, ist ein Arno Schmidt, der als originärer Sprachgeist mit seinem Tiraden-Schwert dazwischen fährt. Und was denn? Fakten Fakten Fakten – und es dann doch zu keiner Informationstiefe schaffen?
Ich ertrage immer weniger diese Eindeutigkeitsprosa mit dem Nüchternheitspathos, in der dann doch nichts ausgesagt wird. Und gäbe es da noch was? Nicht nur klingt und schwingt da nichts für einen erweitert Ansprechbereiten. Ohne (durch die „Diktatur der Angepassten“ weggemendelten?) Anklangssinne und einen mindesten Gestaltungswillen des Materials verkommt auch sonst alles zur Anspruchslosigkeit.
Sprachvermögen ist Reflexionsfähigkeit. Und warum sollen nicht manche ihre Oralität noch als etwas offen Kulinarisches pflegen? All die „Themen“, die Gründe etwas auszusprechen, all die infantilen „Botschaften“ der Kunstersatz-Werke heute im Subjekt-Prädikat-Objekt-Deutsch sind mir ein paar Mal zu oft durchgekaut und eigentlich über-flüssig. (Und warum der auch seelisch so oft stotternde Kleist trotzdem solch eine Beachtungs-Kür von allen Seiten erfährt?)
Ansonsten weiß man aus der Kommunikationstheorie, dass der Grad an Klarheit einer Aussage allzu oft ein eher mutmaßlicher ist, dass Kontext bzw. (die unausgesprochen bleibenden) Nebenabredungen oft die entscheidenderen sind. Und ein Signal-Rauschabstand ist keiner, wenn gar nichts mehr tönt.
Am 23. Dezember 2011 um 18:10 Uhr
Also den ersten Satz des letzten Zitats, zu Recht fett gedruckt, glaub ich sofort. Würde sich auch als erster Satz einer Nobelpreis-Rede gut machen. Keep it, Uwe!
Am 4. Januar 2012 um 08:57 Uhr
Tellkamp formuliert manchmal kompliziert (ich habe seinen „Turm“ durchgeackert) und auch hin und wieder, wie oben, etwas geschwollen. Dennoch: Er schreibt oft gut, manchmal sind seine Sätze durchaus ein litererarisches Ereignis.
Etwas anderes ist aber, die Welt, aus der Tellkamp kommt und damit z.B. seiner Bilder zu verstehen. Ich kann mit Flammat und Riesaer Zündhölzern etwas anfangen, weil ich aus dem Osten komme. Aber welcher Westler (von der Heuchelei und Unwissenheit der offiziellen Meinung will ich gar nicht erst reden) interessiert sich denn tatsächlich, für das, was im Osten war?
Viele Westler geben sich einfach mit den Phrasen von Stasi und Mauer zufrieden und glauben damit die DDR ausreichend katalogisiert zu haben. Diese Ignoranz geht natürlich bis weit in die Kultur hinein. Wenn von offizieller Seite und in den Medien selbst über den Tod von Christa Wolf derart spärlich berichtet wird, dann zeigt das die Unfähigkeit und Unwilligkeit des heutigen Deutschlands, sich mit den progressiven und erhaltenswerten Hinterlassenschaften des von 1949-1990 bestehenden zweiten deutschen Staates zu befassen und in sich aufzunehmen. Daraus ergibt sich, dass die deutsche Einheit in Wirklichkeit gar nicht gewollt ist.