100-Seiten-Bücher – Teil 21
Heinrich v. Kleist: »Michael Kohlhaas« (1808/10)
Leipzig, 22. Januar 2012, 23:29 | von Paco
Mit 221.000 Zeichen handelt es sich um ein ziemlich langes 100-Seiten-Buch (unsere angenommene Obergrenze für das 100-Seiten-Projekt ist 230.000), und bei Kleist muss man ja sowieso auch noch die Kommas mitlesen, und das dauert eben eine Weile.
Und wofür der berühmte Pferdehändler Michael Kohlhaas eigentlich berühmt ist, seine infernalische Selbstjustiz, das findet auf höchstens 10 Seiten statt. Zunächst wird Kohlhaas ja vom selbstherrlichen Junker Wenzel von Tronka zum Besten gehalten, denn dieser hat sich einen Passagierschein ausgedacht, der gar nicht nötig ist. Kohlhaas will das bei der zuständigen Stelle in Dresden klären und lässt als Pfand zwei seiner Rappen zurück, die bei seiner Rückkehr aber arg runtergekommen und damit wertlos geworden sind.
Sein Kampf um Gehör bei Gericht schlägt überall fehl, überdies kommt seine Frau dabei um. Er beerdigt sie noch schnell und »übernahm sodann das Geschäft der Rache«, auf Seite 28 der Reclam-Ausgabe. Er brennt die Tronkenburg nieder und ermordet ein paar Leute, er äschert dreimal Wittenberg ein und bekämpft und besiegt die zu seiner Ergreifung ausgeschickten Truppen. Auf Seite 39 steckt er auch noch Leipzig »an drei Seiten« in Brand, aber das war es dann auch schon. Er unterredet sich mit Martin Luther höchstpersönlich und nach dessen Fürsprache verlagert sich die Handlung nach Dresden und es wird Zeit für gerichtlich-taktiererische, jedenfalls unkämpferische und ungrausame Verwicklungen.
Am haarsträubendsten ist dann noch die urplötzlich aus dem absoluten Nichts heraus startende Story um die Kapsel, die einen Stichpunktzettel dieser wahrsagenden Zigeunerin beherbergt. Dadurch wird alles noch mal um ganze 25 Seiten hinausgezögert, jedenfalls ist am Ende sogar der Sympathieträger froh, glücklich und zufrieden, dass er endlich hingerichtet wird. Ist aber insgesamt ein schöner Hundertseiter, das sollte jetzt alles nicht so negativ klingen.
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Hrsg. von Gerd Eversberg. Hollfeld: Bange 1998.
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Anmerkungen von Bernd Hamacher. Nachwort von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 2003. S. 1–109 (= 109 Textseiten).
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Erzählung. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2008.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 23. Januar 2012 um 00:20 Uhr
Es handelt sich nicht um Selbstjustiz, sondern um Selbsthilfe in der Form einer Fehde, einem mittelalterlichen Rechtsmittel, dessen Form Kohlhaas sorgsam wahrt. Schon bei „infernalische Selbstjustiz“ beginnt daher das Missverständnis.
Die „Story“ – sowas kann Kleist gar nicht schreiben – um die Kapsel ist übrigens mitnichten haasträubend. Haarsträubend sind dagegen allerdings die romantischen Vorlagen, die Kleist hier parodiert. Die Geschichte um die Kapsel ist ansonsten nur dafür wichtig, um Kohlhaas als absolutes Individuum zu etablieren. Aber das interessiert bei Deiner Lektüre dann wohl sowieso nicht mehr.
Schade!
Am 23. Januar 2012 um 01:27 Uhr
Hach ja, da kann wieder einer mit Ironie nicht umgehen.
Schade!
Am 23. Januar 2012 um 09:56 Uhr
Nicht jedes Gegenteil erzeugt sogleich Ironie.
Am 26. Januar 2012 um 10:02 Uhr
Dass man heute überhaupt etwas über „Michael Kohlhaas“ schreibt, ist ja allein schon bemerkenswert. Und warum sollte man (wenn damit die Möglichkeit entstünde, dass sich neue Leser dafür erwärmen) es nicht in einer Form tun, die verkürzt, provokativ bzw. mit Ansätzen von Ironie (der zweite Teil des ersten Satzes gefällt mir) formuliert. Wäre da nicht der unangenehme Hintergedanke und die Tatsache, dass manch einer (der Mainstream sowieso) sich mit klarer Sprache, anspruchsvollen Gedanken und Texten möglichst nicht oder nicht lange beschäftigen will …