In Sachen Anna Karenina
Genf, 23. März 2012, 01:35 | von BaumanskiDieter Wirth ist unzufrieden. Unzufrieden mit der »Anna Karenina«-Übersetzung von Rosemarie Tietze und vor allem mit dem einhelligen Lob der Kritik. In seinem Aufsatz in der Zeitschrift »Das Wort« schaut Wirth lobenswerterweise äusserst genau hin und widmet allein Tietzes Übersetzung der Anfangspassage des Tausendseiters ganze zehn Seiten.
Nun kann man ja, wenn man will, jede Übersetzung angreifen. Auch wenn wir es darauf anlegten, die »Melange« aus früheren Übersetzungen zu kritisieren, die Wirth als Alternative zu Tietzes Version der Passage präsentiert, fänden sich problemlos einige Angriffspunkte, nur mal drei herausgegriffen:
1. Tietzes Anfangssatz ist, wenn er auch rhythmisch weiter entfernt sein mag, syntaktisch näher am russischen Original (»Все счастливые семьи похожи друг на друга, […]«): »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich« gibt die Adjektiv-Konstruktion besser wieder als »Alle glücklichen Familien gleichen einander« (Melange).
2. Bei »Menschen, die der Zufall in irgendeiner Herberge zusammenführt« (Melange) könnte man monieren, dass – wie bei Tietze – die Vergangenheitskomponente des Partizips »сошедшиеся« übergangen wird, dass also »zusammengeführt hat« möglicherweise passender wäre.
3. Die Phrase »более связаны между собой« ist bei Tietze genauer übersetzt (»mehr miteinander verbinde«) als in der Melange (»einander näherstanden«).
(Usw.)
Also, falls nach dem zweifellos auch berechtigten Artikel von Wirth jetzt alle denken, sie müssten ihre Übersetzung von Rosemarie Tietze bei eBay loswerden: Nein, müsst ihr nicht.
Und ich gehe jetzt rüber ins Café Livresse und trinke eine Melange, hehe.
Am 23. März 2012 um 13:12 Uhr
»Rannten herum schließt anders als бегали [liefen umher] schnelle Gehbewegungen aus.« (S. 152 im PDF)
Wahnsinn, Übersetzungskritik ist doch das beste aller Genres! I like.
Am 24. März 2012 um 19:28 Uhr
Mich hat an der Tietzeschen Übersetzung immer irritiert dass am Schluß des siebten Teils zwei Wörter weggelassen wurden (Anna liest nur im „Buch“ statt im „Buch ihres Lebens“ wie bei Fred Ottow) und damit einer der großartigsten Sätze der Weltliteratur praktisch seines Rückgrats beraubt wird. Ist das denn im Original so vorgegeben? Handelt es sich vielleicht um eine stehende russische Wendung, die wörtlich übersetzt im Deutschen unverständlich ist?
Am 28. März 2012 um 00:00 Uhr
Bei Tolstoj ist nur die Rede vom „Buch“, nicht vom „Buch des Lebens“. Das geht also bei Ottow schon in Richtung Interpretation.
In der Übersetzung von Hans Moser (ca. 1900) heisst es etwa: „Das Licht, bei welchem sie das von Mühsal und Lüge, Weh und Übel erfüllte Buch gelesen hatte, flammte in noch hellerem Glanze empor als je, und erleuchtete alles vor ihr, was früher für sie im Dunkeln gelegen hatte, es prasselte, verdunkelte sich und erlosch auf ewig.“
Am 28. November 2014 um 16:45 Uhr
Ich bin des Russischen unkundig und kann mir daher keine wohlfundierte Kritik erlauben. „Anna Karenina“ in der Übersetzung von Fred Ottow habe ich in einem Zuge gelesen. Danach habe ich mir „Auferstehung“ (übers. Ilse Frapan) vorgenommen – ich bin enttäuscht. Schon die Vorgeschichte der Maslowa wird teilnahmslos „runtererzählt“, manches wirkt abgehackt und ohne Rhythmus. So übersetzt man einen Bericht, aber keinen Roman. Das ist (hoffentlich!) nicht Tolstoi, wie ich ihn in der Ottowschen Übersetzung kennengelernt habe.