100-Seiten-Bücher – Teil 28
Joseph Brodsky: »Erinnerungen an Leningrad« (1986)
Berlin, 9. Juli 2012, 08:15 | von Josik
Der Hanser Verlag hat aus Joseph Brodskys 500-seitigem Essayband »Less Than One« (1986) für das deutsche Publikum zunächst einen kompakten Hundertseiter herausgeschält. Dieser Auswahlband »Erinnerungen an Leningrad« erschien 1987 und lässt sich qua Titel auch heute noch gut als Tourismusartikel verkaufen, jedenfalls wird er weiterhin in allen St.-Petersburg-Reiseführern empfohlen. Er besteht aus zwei Essays, dem ziemlich faden »Weniger als man« und dem fulminanten »In eineinhalb Zimmern«.
Seine Übersetzer hat Brodsky auf jeden Fall mit folgendem Satz, in dem es um das Wort ›Jude‹ geht, vor Probleme gestellt: »In printed Russian, ›yevrei‹ appears nearly as seldom as, say, ›mediastinum‹ or ›gennel‹ in American English.« Die Deutschen übersetzen noch recht brav: »Im gedruckten Russisch kommt ›Jewrej‹ fast so selten vor wie etwa ›Mediastinum‹ oder ›Lichthaube« im Deutschen.« (S. 13) Die Russen hingegen lassen richtig die übersetzerische »Freiheits-Sau« raus: »В печатном русском языке слово ›еврей‹ встречалось так же редко, как ›пресуществление‹ или ›агорафобия‹.«
›Transsubstantiation‹ und ›Agoraphobie‹ sollen also im gedruckten Russisch selten vorkommen! Das ist mit Google Books heute leicht widerlegbar, es ist aber noch harmlos gegen die folgende Stelle – den entsetzlichsten Druckfehler, der mir jemals begegnet ist: Auf S. 62 der deutschen Ausgabe ist von der »Frontanka« die Rede.
Gut, dafür kann Brodsky nichts; in seinem zweiten Essay schreibt er allerdings höchstpersönlich: »Ein normaler Mensch erinnert sich nicht daran, was er zum Frühstück gegessen hat.« (S. 108) Das ist nun wirklich völliger Blödsinn, denn jeder normale Mensch erinnert sich in der Regel jeden Tag daran, was er zum Frühstück gegessen hat, aus dem einfachen Grund, weil man normalerweise jeden Tag das Gleiche zum Frühstück isst. Ich zum Beispiel trinke seit mehreren Jahrzehnten jeden Tag zum Frühstück eine heiße Schokolade und esse dazu eine Stulle, und mir ist es sogar gelungen, diese Frühstücksangewohnheit auch auf Reisen beizubehalten, egal wo ich gerade auf Urlaub war, ob in Schottland oder auf der Krim, ob in La Réunion oder wie neulich mit Marcuccio und Paco in Chemnitz.
Am 10. November 2012 um 00:17 Uhr
Ja was wäre ein Feuilleton, wenn es nicht ironisch insane wäre. Da bin ich hier mal schnell rübergeblättert und dachte über die Brodsky-Erinnerungen etwas Wesentliches zu lesen und dann werde ich doch einfach wie ein Sankt Petersburger Tourist mit Einlassungen über das russisch-englisch-deutsche Wort für Jude, einem Rechtschreibfehler und einer Frühstücksstulle abgespeist. Hätte mehr sein können. In meiner Ausgabe, einer Lizenzausgabe des Deutschen Bücherbundes von 1987 steht übrigens kein Druckfehler auf S. 62, sondern das wohl richtige „Fontanka“. Nach kurzem Googeln ein Fluss im damaligen Leningrad. So, nun wünsche ich Ihnen eine Gute Nacht und morgen früh ausgezeichneten Appetit bei Ihrer Stulle. Ein schönes Wort.
Am 5. Juli 2022 um 08:54 Uhr
Die ist eine seltsame Rezension des Brodsky-Buches.
Oder ist’s umblätterermäßig ‚ironisch‘ gemeint?
Will man das übliche Fäuleton damit auf die Schippe nehmen?
Aber… wieso dann so – sorry – schlecht?