100-Seiten-Bücher – Teil 35
Johann Gottfried Seume: »Mein Leben« (1813)
Berlin, 18. September 2012, 15:26 | von Josik
Der letzte Satz in Seumes Autobiografie lautet: »Und nun –«. Natürlich würden sich diese Worte samt dem Gedankenstrich auch ganz hervorragend als Grabinschrift eignen und dergestalt den Pragmatismus solcher berühmten Grabsprüche wie: »Es liegt begraben die ehrsame Jungfrau Nothburg Nindl / gestorben ist sie im siebzehnten Jahr / just als sie zu brauchen war« ausstechen. Allerdings war dieser Schluss so nicht beabsichtigt, vielmehr ist Seume zwischendurch gestorben, und seine Autobiografie kann nunmehr nur deshalb den Hundertseitern zugeschlagen werden, weil sie Fragment geblieben ist.
Sehr schön finde ich, dass Seume mehrmals das Wörtchen Hm verwendet, einmal auf S. 20 der Reclam-Ausgabe: »Mein Vater, der den Vorfall hörte, sagte weiter nichts als sein bedenkliches Hm, und ich habe nie seine Meinung über den streitigen Punkt erfahren«, und dann auf S. 27: »[E]in Hm hm mit Kopfschütteln oder ein ›du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!‹ waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen.« Das Grimm’sche Wörterbuch fährt in den Belegstellen zum Lemma HM einen Rattenschwanz an Großautoritäten auf, den Maler Müller, Jean Paul, Schiller, Göthe, Klinger, Immermann usw. usw., irrerweise auch einen dort so genannten Kotzebuk – doch Seume fehlt.
Einen seiner Lehrer schließlich zitiert der dort Fehlende mit dem Wortwitz: »Lumina mundi wollt ihr werden; ja, ihr Halunken, lumpenhundi werdet ihr sein.« (S. 35) Im Grimm’schen Wörterbuch ist sogar das Wort lumpenhündlein verzeichnet! Übrigens kann man dumme Menschen, die abgeschmackte chinesenfeindliche Witze über den Verzehr von Hunden und Katzen reißen, jederzeit mit diesem Zitat aus Seumes Autobiografie beschämen: »Wenn […] ich den schwarzstriefigen Kommisspeck und auch den Rauchlachs zum Überdruß gegessen hatte, schoß uns Serre in den Außengegenden auch wohl einen fetten Hund oder einen feisten Kater, deren frisches Fleisch und Fett uns nicht selten leckere Mahlzeiten gaben.« (S. 95f.)
J. G. Seume: Mein Leben. Leipzig: Göschen 1813. S. 1–183 (= 183 Textseiten) (online)
Johann Gottfried Seume: Mein Leben. Nebst Fortsetzung von C. A. H. Clodius. Mit einem Nachwort von Günther Birkenfeld. Stuttgart: Reclam 1977. S. 3–98 (= 96 Textseiten)
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 19. September 2012 um 14:46 Uhr
Das Buch habe ich auch gelesen und finde es äußerst authentisch geschrieben. Findet man heutzutage nur sehr selten. Ich empfehle es jedem als Abwechslung zum Einheitsbrei!