100-Seiten-Bücher – Teil 37
Gottfried Keller: »Romeo und Julia auf dem Dorfe« (1856)
Oxford, 23. September 2012, 17:37 | von Baumanski
Gottfried Kellers Seldwyler Novellen gehören zweifelsfrei bis heute zum Besten, was die Deutschschweiz an Literatur hervorgebracht hat. Genauso natürlich der »Grüne Heinrich«, aber der hat halt in beiden Fassungen an die tausend Seiten, und erst neulich traf ich wieder jemanden, der weder die eine noch die andere Fassung zu Ende gelesen hatte!
Die Handlung von »Romeo und Julia auf dem Dorfe« ist im Titel eigentlich schon ganz gut zusammengefasst. Man könnte höchstens noch hinzufügen, dass sich die Bauern Manz und Marti, die Väter von Sali und Vrenchen, wegen eines kaum brauchbaren Ackers zerstreiten und ruinieren. Der eine Wink mit dem Shakespeare-Zaunpfahl war übrigens nicht genug für Keller, sondern er bringt noch weitere Anspielungen unter, etwa wenn die Liebenden den Flug der Lerchen beobachten und Vrenchen lacht wie eine Nachtigall.
Die leicht archaische Sprache wirkt dennoch äusserst lebendig, was sich unter anderem den bäurischen Flüchen (»beim ewigen Hagel« etc.) sowie einigen ansprechend beschriebenen Details verdankt: Einen »schlimmen weissen Halskragen« darf sich zum Beispiel jeder Leser seinem eigenen Modegeschmack entsprechend vorstellen. Schliesslich findet eine garstige Serviertochter, Sali sei »schön petschiert mit seiner jungen Gungeline«, woraufhin die Wirtin sie völlig zu Recht als »Essighafen« bezeichnet.
Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Mit einem Kommentar und einem Nachwort von Klaus Jeziorkowski. Frankfurt/M.: Insel-Verlag 1984. S. 7–102 (= 96 Textseiten).
Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novelle. Durchges. Ausg. Stuttgart: Reclam 2002.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)