100-Seiten-Bücher – Teil 39
Werner Herzog: »Vom Gehen im Eis« (1978)
Düsseldorf, 4. Oktober 2012, 13:05 | von Luisa
Im kalten November/Dezember 1974 ging Werner Herzog von München nach Paris, um die kranke Lotte Eisner vor dem Tod zu retten. Keine Wanderung war das, keine Landeserkundung, sondern Magie: Gehe ich, lebt sie. Kompass, Karte, Matchsack, feste Schuhe: knappste Ausrüstung, direkter Weg.
Die Wolken hängen niedrig, tagelang Regen, auch Schnee. Kahle Wälder, aufgebrochene Äcker, kümmerliche Dörfer. Dem Gehenden begegnen Armut und Angst. Das reiche Süddeutschland, das mäßig reiche Ostfrankreich scheinen bettelarm.
Abends, im Heu oder in irgendjemandes Ferienhaus (Scheibe eingeschlagen, genächtigt auf der Küchenbank), füllt er sein Notizheft. Er schreibt wie er geht: weiter, nur weiter, wie der Wanderer der »Winterreise«. Die Sätze sind kurz und brauchen keinen Zusammenhang, sind Widerhall des Sehens und Denkens. Für die Schöpfung und den Sündenfall genügen zwei Bemerkungen: »Eine Glückseligkeit breitet sich aus und aus der Glückseligkeit erwächst jetzt ein Unding. Das ist die Lage.«
Fast vierzig Jahre ist das her, das Gehen als Beschwörung wurde keine Mode. Abenteuer hat Herzog nicht erlebt, aber vieles wahrgenommen. Durchnässt, die Füße voller Blasen, die Sehnen angeschwollen, ist er hügelauf, hügelab nach Paris gegangen, misstrauisch beäugt, in der Kälte der Einsamkeit. Er brauchte genau drei Wochen. Lotte Eisner lebte noch bis 1983.
Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München; Wien: Hanser 1978.
Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München: Hanser 2012.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)