100-Seiten-Bücher – Teil 41
Jenny Erpenbeck: »Geschichte vom alten Kind« (1999)
Düsseldorf, 2. November 2012, 12:20 | von Luisa
Das alte Kind ist zwar schon vierzehn und überhaupt nicht fein. Auf dem Cover der Taschenbuchausgabe sind trotzdem die weiß bestrumpfhosten Beine und schwarz belackschuhten Füße eines kleinen Mädchens zu sehen, das in einem festlichen Kleid auf einem Mahagonistuhl sitzt.
Woher das Kind kommt und wie es heißt, weiß zunächst niemand, es steht eines Tages einfach mit einem leeren Eimer auf der Straße und schweigt zu allen Fragen. Also steckt man es in ein schäbiges Kinderheim, wo es ganz zufrieden lebt, denn im Gegensatz zu den andern will es nicht heraus aus diesem ummauerten Gelände, sondern drin bleiben.
Die meisten Kritiker haben die Geschichte irgendwie auf die DDR bezogen. Die Frage, was es dann mit dem leeren Eimer auf sich habe, wollte bislang niemand beantworten. Dabei wäre der Eimer das richtige Covermotiv. Düster gezeichnet, kohlschwarze Schatten in der Höhlung, so dass man schon halb in Versuchung ist, sich zu bücken und den Kopf reinzustecken.
Die Art, wie das alte Kind und seine Überlebenstaktiken beschrieben werden, hat etwas Bohrendes, Hartnäckiges, Anziehendes. Als käme es auf genaue Erklärungen an, die dann aber ins Vage auslaufen. Oder als gäbe es doch noch etwas zu finden auf dem Eimerboden. Ein Irrtum natürlich, wie auch die Altersangabe des Kindes ein Irrtum war oder vielmehr eine Lüge. Die ganze Geschichte läuft anders, als man gedacht hat, und insofern passt natürlich jedes Cover außer dem richtigen.