Helmut Lottmann

Göttingen, 10. Dezember 2012, 13:52 | von Josik

Als ich neulich bei Lanz zu Gast war, genauer gesagt bei Cron & Lanz in der Weender Straße, und voller Begeisterung im »Freitag« herumlas und dann plötzlich auf diese wunderbare Rezension von Helmut Lethens Buch »Suche nach dem Handorakel« stieß, marschierte ich nach beendigter Rezensionslektüre sofort nach quasi nebenan in die berühmte altehrwürdige Buchhandlung Deuerlich, die allerdings ein paar Tage zuvor in eine Hugendubel-Filiale umgewandelt worden war, und fragte nach dem Lethen-Buch, das dort aber nicht vorrätig war, weswegen ich also wieder hinauseilte und spontan beschloss, vor Ort nach dem Lethen’schen Handorakel zu fragen, ein paar Straßen weiter, direkt in dem Verlag, in welchem es erschienen ist, so dass ich also Richtung Geiststraße lief, dort bei Wallstein einfach mal klingelte, prompt summte der Türsummer, niemand stellte irgendwelche Fragen durch die Gegensprechanlage, ich hurtete also die Treppe hinauf, vorbei an einem riesigen Schild, auf dem, wenn ich das richtig gesehen habe, lauter outgesourcte Göttinger Augenärzte verzeichnet sind, und fragte dann freundlichst nach dem Lethen’schen Handorakel, ich sei durch die wunderherrliche Rezension im »Freitag« auf dieses Buch aufmerksam geworden, hätte es aber bei Deuerlich bzw. Hugendubel nicht auftreiben können und würde es sehr gerne kaufen, und keine halbe Stunde später war ich schon wieder zuhause und las drauflos und schrieb mir einen Satz nach dem anderen heraus, weil ich es gar nicht fassen konnte, wie man in einem so schmalen Band so wunder­sam leichtfüßig die jahrzehntelange Geschichte von Leuten, die mal links waren, Revue passieren lassen kann, Lethen schreibt ja gleich eingangs, dass er dieses Buch in nur zwei Wochen verfasst habe, irgendwo an der Ostsee, er bibliografiert im Vorwort seine kompletten zwei Bücherkoffer, die er an die Ostsee mitgenommen habe, doch wie stockte mir der Atem als ich in dieser Bücherliste zwischen den größten Namen der Theorie-, Kultur- und Geistesgeschichte, zwischen Theodor W. Adorno und Jakob von Uexküll, zwischen Walter Benjamin, Hans Blumenberg, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Gerd Koenen, Reinhart Koselleck, Siegfried Kracauer und Helmuth Plessner plötzlich auch auf diese Angabe stieß:

»Joachim Lottmann, Hundert Tage Alkohol, Wien 2012.« (S. 9)

Es ist dies die wohl unerwartetste Joachim-Lottmann-Erwähnung in der Geschichte der Menschheit!

Sie erscheint mir inzwischen aber eigentlich ganz konsequent, denn Sätze wie die folgenden könnten ja auch von Lottmann sein, tatsäch­lich aber stammen sie samt und sonders aus dem Lethen’schen Handorakel:

»[A]ls ich ihn im Oktober 1989, auf der Bettkante des Hotels Sussex in San Francisco sitzend, nachdem ich in der Sendung Good Morning America vom Fall der Mauer erfahren hatte, anrief, um ihm zur prognostischen Kraft seiner stereotypen Nervsätze zu gratulieren, keuchte er, atemlos wie alle, ›Wahnsinn‹«. (S. 32)

Und so geht es immer weiter im Lottmann-Sound, oder wie man in Zukunft wohl sagen muss, im Lethen-Sound:

»Mutter kam atemlos ins Hotel: Die Haut der schwarzen GIs färbe gar nicht auf deren Unterwäsche ab!« (S. 102)

»300 Zuhörer hielten den Atem an; das war virtuos. Stille im Saal – 1961!« (S. 54)

»[D]er Mensch ist von Natur aus künstlich! Großes Aufatmen.« (S. 117)

Eine Lethen-Szene, die eigentlich ebenfalls eine Lottmann-Szene ist:

»Die Darstellung des Sechstagekriegs in der BILD-Zeitung erzeugte eine Wende zu einer antiisraelischen Haltung, die uns – atemlos und ungläubig vor dem Kiosk die Schlagzeilen beratend – überrascht hat.« (S. 17)

Noch faszinierender:

»Wir gewöhnten uns an den Jansenismus beim Espresso« (S. 126).

Oder:

»Die Geographiestudenten trugen ausnahmslos Knickerbockerhosen.« (S. 53)

Doch dass in diesem Traktat nicht nur funky Knickerbockerhosen geschildert werden, ersieht man aus der folgenden, natürlich ebenfalls lottmannartigen Personenbeschreibung:

»Karl Pestalozzi, der berühmte, baumlange, kluge und milde Mann, aber immer in Hochwasserhosen« (S. 99).

Am allerallerbesten, hammermäßigsten und wohl auch zeitgemäßesten und aktuellsten ist aber natürlich diese unübertrefflich grandiose Darstellung:

»Nun herrschte atemlose Stille. Der Beamte des Verfassungsschutzes kannte die komplexe Systemtheorie von Niklas Luhmann.« (S. 19)

 

Eine Reaktion zu “Helmut Lottmann”

  1. Helmut Lethen

    Diesen Kommentar empfand ich als die größte Würdigung, die meinem schnellen Buch zu Teil wurde. Während die alten Kombattanten sich in Schweigen hüllen, fand ich hier eine Resonanz, die zu erhoffen mir verstiegen vorkam.

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