100-Seiten-Bücher – Teil 50
Peter Handke: »Versuch über den Stillen Ort« (2012)
Berlin, 18. März 2013, 12:45 | von Josik
Leider kommt Der Umblätterer nicht umhin, einen philologischen Skandal riesenhaften Ausmaßes aufzudecken. Auf dem Cover dieses epochemachenden ›Versuchs‹ ist nämlich der größte Teil der ersten Manuskriptseite abgebildet. Man sieht dort Handkes wunderschöne, gestochen scharfe Handschrift; wie üblich hat er alles mit Bleistift geschrieben.
Einzelne Wörter auf dieser Manuskriptseite sind durchgestrichen. Wenn man die Manuskriptseite auf dem Cover nun mit dem Beginn des gedruckten Fließtextes, im Buch ab Seite 7, kollationiert, stellt man fest: Die Worte, die im Manuskript gestrichen sind, kommen auch im gedruckten Text nicht vor. So weit hat also alles seine Richtigkeit. Im ersten Satz des ›Versuchs‹ berichtet Handke, dass er vor langer Zeit einmal einen Roman des englischen Schriftstellers A. J. Cronin gelesen habe, und er löst in einer Parenthese die Initialen dieses Autornamens wie folgt auf: »›Archibald Joseph‹, wenn ich mich nicht irre«. Haargenau so ist es auch auf dem Cover zu sehen – großartig!
Im dritten Satz gibt Handke eine knappe Inhaltsangabe des Cronin’schen Romans, so wie er sich an ihn erinnert. Liest man den gedruckten Text, so steht da: »Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (›wenn ich mich nicht irre‹).« Kuckt man nun aber den Text auf dem Cover an, die Manuskriptseite, das Original – so steht da etwas völlig anderes, nämlich: »Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (wiederum: ›wenn ich mich nicht irre‹)«. Das wiederum und der darauffolgende Doppelpunkt sind hier eindeutig nicht gestrichen, sondern Bestandteil der Handkehandschrift!
Warum sind im gedruckten Text dieses wiederum und der darauffolgende Doppelpunkt verschwunden? Steht hier Handke’sche Beschreibungspotenz gegen Suhrkamp’sche Editionsimpotenz? Dass ein Handkebuch erhaben ist, auch und gerade dann wenn es sich um ein poetologisches Scheißhaustraktat handelt, leuchtet ja unmittelbar ein. Umso unverantwortlicher sind also derartige Streichungsorgien, wie sie hier zelebriert wurden. Vielleicht wird Herr Dr. Fellinger oder wer auch immer einmal dazu Stellung nehmen müssen, wie es zu solchen Inkohärenzen kommen konnte.
Eine Erklärung dahingehend, dass die Streichung des Wortes wiederum und des hierauf folgenden Doppelpunkts in Absprache mit Handke erfolgt sei, wäre natürlich allzu billig und auch völlig unglaubwürdig, abstrus und aberwitzig, schließlich präsentiert uns hier ein und dasselbe Buch je verschiedene Seiten des gleichen Textes, von denen man mit Fug und Recht der abgebildeten Manuskriptseite eine höhere, werktreuere Autorität wird zubilligen müssen. Suhrkamp müsste gewarnt sein: Das unmögliche Schachbrettcover eines anderen Verlags wurde bereits zum ikonischen Zeichen für den »ahnungslosen Dilettantismus« Peer Steinbrücks.
Am 19. März 2013 um 11:33 Uhr
noch immer kein Kommentar von Gregor Keuschnig, was ist da los ?
Am 20. März 2013 um 13:37 Uhr
Auf http://www.suhrkamp.de/buecher/versuch_ueber_den_stillen_ort-peter_handke_42317.html wiederum steht – wenn ich mich nicht irre – das „wiederum:“ an seinem angestammten, von Handkes Hand geschriebenen Platz. Sollte der Stille-Ort-Setzer dieses „wiederum:“ einfach mit einer lapidaren Handbewegung weg- oder gar abgewischt haben?
Am 20. März 2013 um 23:55 Uhr
Herzlichen Dank für diese ebenso notwendige wie unfassbare Ergänzung!