100-Seiten-Bücher – Teil 53
Édouard Dujardin: »Geschnittener Lorbeer« (1887)
Paris, 5. April 2013, 01:20 | von Niwoabyl
Das Wagnerjahr wollte ich nicht verstreichen lassen, ohne einmal an Édouard Dujardin erinnert zu haben, den Gründer der französischen »Revue wagnérienne«. Interessanterweise betitelte der vergessene Symbolist seinen epochalen Hundertseiter nicht »Winterstürme wichen dem Wonnemond« oder so, sondern »Les Lauriers sont coupés«, nach dem zweiten Vers des berühmten alten französischen Kreisliedes »Nous n’irons plus au bois«, nicht weniger ohrwurmhaft, dafür aber einen Deut pessimistischer. Über die eigentliche Bedeutung dieses Titels lässt sich prächtig spekulieren, selbst Petrarca wird dazu bemüht, was man ein bisschen weit hergeholt finden darf. Eigentlich soll das Liedlein, heute noch französischer Pausenhofhit, die Gründung der ersten Versailler Bordelle kommemoriert haben, und im Buch geht es ja auch um käufliche Liebe.
Erzählt wird ein Abend im Leben eines »Studenten«, der gleich anfangs gesteht, dass er sich nicht sonderlich um Jura kümmert. Da er im Paris des Fin de siècle lebt, bleiben ihm freilich drei ausgesuchte Betätigungsfelder: die oberflächlichen Gespräche mit Künstlerfreunden, das einsame Essen in deprimierenden Cafés (man fühlt sich an Huysmans‘ großartigen »À vau-l’eau« erinnert) und schließlich das Theater, will sagen: das abendliche Warten auf Schauspielerinnen, mit denen sich eventuell Liebschaften anfangen lassen.
Amüsant ist vor allem die wilde Stilmischung, ein wirkliches Fin-de-siècle-Potpourri, von derben, »authentischen« Ausfällen über komische Szenen zum entfesseltesten symbolistischen Gefasel. Der Auftakt zum Beispiel möchte gern so etwas sein wie ein Prosa gewordenes »Rheingold«-Vorspiel, mit einer Erzählstimme, die aus dem Nichts entsteht und sich allmählich in den Abend hineinmaterialisiert. Und nach nur ein paar Seiten schon will der Besitzer besagter Stimme im Café eine Frau durch gezieltes Billettzustecken anbaggern. Dann freilich verzichtet er darauf und macht sich ihr erst dadurch bemerkbar, dass er sorgfältig sein Billett zu kauen beginnt. So schnell verlässt man hier Bayreuth zugunsten der Vaudeville-Bühne.
Obwohl die Erzählung das erste bekannte Beispiel eines buchlangen inneren Monologs sein soll – so will es die Literaturgeschichte –, fühlte ich mich eben eher an die vielen komischen Monologe erinnert, die damals Furore machten, etwa an Georges Courtelines »Théodore cherche des allumettes«. Darin tappt die beschwipste Hauptfigur eine halbe Stunde auf der Suche nach Streichhölzern im Dunkeln, somit allerhand Kataströphchen verursachend, die er zur Freude des Publikums laut kommentiert. Das ist immer noch sehr lustig, und so was Hochkomisches hätte Dujardin wahrscheinlich auch drauf gehabt. Wäre er nur nicht Mallarmé-Freund gewesen.
Édouard Dujardin: Geschnittener Lorbeer. Roman. Aus d. Franz. von Günter Herburger. Köln; Berlin: Kiepenheuer u. Witsch 1966.
Edouard Dujardin: Die Lorbeerbäume sind geschnitten. Dt. von Irene Riesen. Nachwort von Fritz Senn. Zürich: Haffmans 1984.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)