100-Seiten-Bücher – Teil 71
Heimito von Doderer: »Das letzte Abenteuer« (1953)
Paris, 10. Juni 2013, 20:21 | von Niwoabyl
Bei Fremdsprachen erinnert man sich immer gern, in welchem Buch man dieses oder jenes nicht so häufige Wort mal gelernt hat. Mir wären zum Beispiel ›Molch‹ und ›Lurch‹ ohne Heimito von Doderer sicher nicht so geläufig. Auch wäre ich nicht von der manischen Laune befallen, diese allerschönsten Wortschatzeroberungen möglichst oft im Gespräch unterzubringen, was sicherlich nicht gescheit aussieht. In Doderers Frühwerk »Ein Mord, den jeder begeht« ist nämlich Conrad, die Hauptfigur, seit der Kindheit von Molchen derart fasziniert, dass sie ihm zur Chiffre geheimer, unwiderstehlicher Leidenschaften werden und er, immer um sein seelisches Gleichgewicht besorgt, sich ständig davor fürchten muss, irgendwas würde ihm zum ›Molch‹ geraten.
Auch im Spätwerk »Die Wasserfälle von Slunj« kommen kleine bis winzige Wassertiere zum Vorschein, eine der Hauptfiguren lässt nach nur wenigen Seiten seine junge Ehefrau ungalanterweise stehen und kriecht auf allen Vieren, um Flusskrebse besser beobachten zu können. Im übrigen wird auch sonst in diesem Roman viel auf allen Vieren gekrochen, in einer der unfassbarsten Szenen vor einer kleinen elektrischen Modelleisenbahn. Darüber hinaus sind bei Doderer gottlob noch große, ganz normale Züge dabei, sowohl in den »Wasserfällen« als auch im »Mord«, wo Wagenabteil und Bahntunnel beinahe strudlhofstiegenmäßig zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Handlung werden.
Also hat es auch seine Richtigkeit, wenn Doderer neben dem immer wiederkehrenden Gewimmel wenigstens einen Erzähltext hinterlassen hat, in dem ein richtig dickes Tier vorkommt, und amüsanterweise geht es um eine Novelle von – für Doderer’sche Verhältnisse – geradezu mickrigen Ausmaßen. Allerdings macht er dann keine halben Sachen und entschädigt den an Wuchtigeres gewöhnten Leser durch eine wahnhaft gigantische Bestie, einen Drachen so groß wie ein Berg. Die Beschreibung liest sich auch wirklich schön, und es ist fast ein bisschen schade, dass dieser Höhepunkt schon so früh im Text erreicht wird.
Läuft ein solches Prachtexemplar frei umher, können Ritter, von der Âventiure gelockt, nicht lange auf sich warten lassen. Allerdings sind die Recken, wenn sie zum ersten Mal den Kopf des Monsters erblicken (mehr als der Kopf des Drachen passt bei Doderer beschreibungsmäßig natürlich nicht auf eine Buchseite), doch etwas verunsichert. Zum eigentlichen Kampf kann es unter diesen Umständen kaum noch kommen, und den Drachen lassen schwertzuckende Däumlinge eh kalt, wenn man so etwas bei einem Reptil sagen kann: »Vielleicht war er auch schon satt.«
Überhaupt zeigt Doderer wenig Interesse am Actionpotenzial eines Ritterromans, und auch das mit der Brautwerbung geht bei allzu empfindsamen Rittern nicht mehr so ruckzuck wie in heldenhafteren Zeiten. Dafür findet man im Text eine ganze Menge wunderschöne synästhetische Vergleiche, an denen sich die höfische Gesellschaft selbst mit großem Vergnügen beteiligt. Diskutiert wird zum Beispiel über die richtige Beschreibung für den eigentümlichen Geruch, den ein vom Drachenhaupt abgeschlagenes, bläulich schimmerndes Stück Horn verströmt, und das ist schließlich auch nicht schlecht.
Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Erzählung. Mit einem autobiographischen Nachwort. Stuttgart: Reclam 1953.
Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Mit einem Nachwort von Martin Mosebach. München: C. H. Beck 2013. S. 7–97 (= 91 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)