100-Seiten-Bücher – Teil 79
Thomas Mann: »Tonio Kröger« (1903)
Freiburg, 4. Oktober 2013, 11:26 | von Mynaral
Ja, im Ministerialblatt des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und Sport Nr. 8/2010 unter Aktenzeichen 35-6615.30/973/1 auf S. 320 steht, dass »zum potenziellen Prüfungsstoff« des Grundkurses neben »Jakob der Lügner« und »Die Physiker« eben auch die »Ganzschrift« »Tonio Kröger« von »T. Mann« gehört.
Der mittellanghaarige, fortschrittsgewandte Referendar hatte eben etwas kumpelmäßig – in Abstimmung und kurzem Blickkontakt mit der Lehrerin – die Tonio-Kröger-Wikipedia-Seite in den ersten Minuten der Behandlung des Werks zu einer ausnahmsweise vertrauenswürdigen Quelle erhoben. Dadurch ermutigt erklärte ein nach dem Thema des Buches befragter, pflichtbewusster Mitschüler links hinter mir, es ginge hauptsächlich um den »unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit«.
Ich war überrascht, hatte ich nach gewissenhafter Lektüre der ersten paar Seiten doch eher mit einer sich weiter fortsetzenden homoerotischen Lovestory gerechnet. Deswegen und aufgrund der augenscheinlichen Abneigung der versammelten Klassenzimmerinsassen gegenüber der Erzählung – sie stellten sie wohl alle ebenfalls höchstens auf eine Stufe mit »Grete Minde« – … jedenfalls wurde ich zur weiteren Lektüre angespornt. Und stellte etwas später – hinter mir die mit
dunkeläugig blauäugig
brünett blond
träumerisch sportlich etc.
beschriebene Kreidetafel – mindestens zwanzig Merkmale vor, die den Novellencharakter der Erzählung beweisen.
Die Dresdner hauts fonctionnaires haben das aus dem Kanon enttäuschend hervorstechende Werk mittlerweile detektiert und (so vermerkt im Ministerialblatt des SMK Nr. 7/2011 unter den Hinweisen zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung und die Ergänzungsprüfungen 2013 an allgemeinbildenden Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs im Freistaat Sachsen, Az. 35-6615.30/1016/1, S. 184) den gänzlich funkzellenüberwachungsunkritischen »Tonio Kröger« mit Juli Zehs »Corpus Delicti« ersetzt.
Thomas Mann: Tonio Kröger. Berlin: S. Fischer 1913.
Thomas Mann: Tonio Kröger. In: Tonio Kröger / Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1994.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 4. Oktober 2013 um 12:01 Uhr
Es heißt zwar „durch … ersetzt“, ansonsten aber: Chapeau!
Am 4. Oktober 2013 um 12:10 Uhr
Oje.
Am 4. Oktober 2013 um 12:19 Uhr
Thomas Mann wird überschätzt. kann das gar nicht mehr ertragen und schon gar nicht empfehlen.
Am 4. Oktober 2013 um 12:20 Uhr
Goethe wird auch überschätzt. Aber deshalb muss man ja nicht gleich Safranski lesen.
Am 4. Oktober 2013 um 20:20 Uhr
Sehr fein geschrieben! Aber mir gehts mit dem Text ein bissle wie es mir mit T. Mann immer geht: Gute Prosa, aber es packt mich nicht. Entschuldige, aber das Skandalon erkenne ich nicht.