Konstruktivismus im Kirow-Distrikt
St. Petersburg, 11. Oktober 2013, 08:05 | von BaumanskiMittwochmorgen, zehn Uhr dreissig. Auch als der Wecker zum dritten Mal klingelt, bleibe ich liegen, nehme das Buch vom Nachttisch und lese endlich die letzten paar Seiten von »Oblomow«. Meine Siebzigerjahre-Ausgabe von Gontscharows grossem Prokrastinationsroman hat den typisch säuerlichen Geruch sowjetischer Bücher und sieht mit dem gelben Einband und der saloonmässigen Aufschrift mehr nach Karl May als nach einem russischen Klassiker aus. Das Buch habe ich vor zwei Jahren in einem Antiquariat an der Gorochovaja gekauft, also zufällig just an der Strasse, an der auch die Wohnung liegt, wo Oblomow die ersten 200 Seiten des Romans verbringt.
Nach dem etwas deprimierenden Schluss stehe ich dann doch auf – es ist nun schon fast Mittag –, trinke einen Kaffee und fahre dann mit der Metro ins Zentrum. Beim Gostinyj Dvor steige ich aus, gehe zur Nationalbibliothek an der Ploschtschad Ostrovskogo, gebe Jacke und Tasche ab, fülle den Kontrollzettel aus und betrete dann wie immer erst mal den Lesesaal für Zeitschriften. Neben der Theke hängt ein Schild: »Genossen Leser! Schreiben Sie bei der Bestellung von Zeitschriften die im Katalog vorgefundene Signatur auf den Bestellzettel. Dies beschleunigt den Erhalt der bestellten Literatur beträchtlich.« Na ja, und bisher ging es eigentlich tatsächlich immer ganz zügig. In der Bibliothek gibt es kein Internet, und das ist doch eigentlich das beste Mittel gegen die Oblomowerei.
(…)
Nach ein paar Stunden verlasse ich die Bibliothek und fahre mit der Metro in den Kirow-Distrikt am südlichen Stadtrand. Dort habe ich mich an der Station Narvskaja mit unserem Freund, dem Opernsänger verabredet, um die konstruktivistischen Bauten des Viertels zu besichtigen. Der Opernsänger ist mal wieder in Bestform. Wir schlendern erst die Traktornaja-Strasse entlang, dann den Narvskij-Prospekt, und er ordnet locker die verschiedenen sowjetischen Gebäude ihrer jeweiligen Epoche zu: eine konstruktivistische Kirowka von Noj Trotzkij hier, eine neoklassizistische Stalinka dort, die typische fünfstöckige Tristesse einer Chruschtschowka dahinter!
Wir überqueren den Obvodnyj Kanal, kaufen eine kleine Flasche Wodka und betreten dann eines der grossen Mietshäuser direkt am Kanal, wo ein Freund des Opernsängers wohnt. Dieser ist Filmemacher, und nach dem ersten Gläschen Wodka rezitiert er erst ein paar Brodskij-Verse und zeigt uns dann Videos des fast 85-jährigen Petersburger Komponisten Oleg Karavajtschuk, der nur mit einem Kissenbezug über dem Kopf auftritt.
Irgendwann, es ist nun schon dunkel, geht es durch die Hinterhöfe weiter, über die Fontanka hinein ins Kolomna-Viertel, vorbei an Ilja Repins Atelier, auf ein paar Teigtaschen in einen usbekischen Imbiss, vorbei an Alexander Bloks Haus, auf einen Schluck Wodka und ein Heringbrötchen in eine Kneipe sowjetischen Stils, bis wir schliesslich wieder mitten im Zentrum sind.
Gegen Ende des Abends sind wir dann noch in so einem Prostranstvo unweit der Isaakskathedrale, einem dieser schön angehipsterten »Art Spaces«, die in Petersburg zurzeit in jedem dritten Hinterhaus zu entstehen scheinen. In diesem Fall: ein altes Wohnhaus mit hohen Decken, ein winziger Ausstellungsraum, eine Bar, und ein Saal mit bröckelndem Stuck und zwei staubigen Kronleuchtern, in dem günstige Gummistiefel verkauft werden. Ich stürze mich sofort auf die Gummistiefel, schliesslich brauche ich ein Paar für die Datscha, aber meine Grösse ist schon ausverkauft.