Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 6):
»Verwerfungen« (1972)
Leipzig, 6. Dezember 2013, 08:05 | von Paco
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
›Verwerfung‹ ist nicht als »Geworfenheit« (Heidegger) des kleinen Mannes zu verstehen, sondern als irgendetwas anderes. Raddatz bemüht zur Erklärung seines metaphorisch-vieldeutigen Buchtitels den Brockhaus, die Wikipedia des 19. und 20. Jahrhunderts. Dort firmiere die Verwerfung als »Verschiebung« einer »Gesteins- oder Gangmasse«. Übersetzt heißt das ungefähr, dass Raddatz Kritik und Einwände anbringen will gegen die sechs Autoren, denen er seine Essaysammlung widmet, vor allem auch gegen deren Rezeption.
Es geht gut los mit zwei Polemiken gegen den laut Raddatz Nicht-Polemiker Karl Kraus (»Karl Kraus hatte unrecht«, S. 28) und gegen die »›Frauenlyrik‹« (S. 50) verfassende Nelly Sachs. Über die Nobelpreisträgerin fällt er das schlimmste Urteil, das man über eine in deutscher Sprache schreibende Lyrikerin fällen kann: Man solle von einigen ihrer Gedichte lieber die englische Übersetzung lesen, die sei besser. Antastbarkeit von Dichterruhm ist hier das große Thema.
Doch nach diesem sensationellen Auftakt bespricht Raddatz plötzlich drei Franzosen und von dem polemischen Hau ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen schreibt er informative Werkbiografien zu Louis Aragon, Jean Genet und Louis-Ferdinand Céline auf.
Erst mit dem abschließenden Text zu Witold Gombrowicz fängt er sich wieder. »Ferdydurke« und »Pornografia« lässt er ja noch gelten, aber dann: »Witold Gombrowicz ist nicht, worauf sich aus Mißverständnis die Kritik einigte, ein großer Tagebuchschreiber« (S. 149). Verwerfung pur!
Fritz J. Raddatz: Verwerfungen. Sechs literarische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972. S. 3–156 (= 154 Textseiten).
(Erfüllt doch nicht wie gedacht die Kriterien eines Hundertseiters, vgl. die Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier.)
Am 6. Dezember 2013 um 09:38 Uhr
Sehr schöne Reihe zu Raddatz, bin gespannt auf die nächsten Einblicke! Und eine geniale (ungerechte) Bemerkung über Nelly Sachs, die ihr da herausgegriffen habt. Ich komme nun stündlich auf den Umblätterer, um einmal zu schmunzeln.