Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 20):
»Ich habe dich anders gedacht« (2001)
Berlin, 20. Dezember 2013, 08:05 | von Göttke
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 99)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Ich bin auf dem Weg ins LWL-Museum für Naturkunde in Münster, als ich Fritz J. Raddatz‘ »Ich habe dich anders gedacht« auslese. Am Stadtrand von Münster angelangt, betrete ich die Sonderausstellung »Sex und Evolution«, die es ebenso in sich hat wie Raddatz‘ Erzählung. Ich sehe sich paarende Igel, einen Enten-Gangbang mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang fürs Weibchen und einen halbseiten-hermaphroditischen Falter, der, genau in der Mitte geteilt, auf der einen Seite männlich und der anderen Seite weiblich ist. Den stärksten Eindruck auf mich machen jedoch die Delfine. Viele Minuten lang starre ich auf das männliche Delfinpärchen mit Genital und Blasloch über mir an der Decke.
Mein ponyhofhafter Mädchentraum zerplatzt endgültig, als mich einer der beiden mit tiefer männlicher Stimme wie folgt anspricht:
Delfin: »Träumst Du?« (S. 21)
Ich: »Ich bin eine dumme Eule« (S. 21), »ich wußte ja nichts von diesem (…) Unsinn.« (S. 61)
Delfin: »Du bist jetzt kein Kind mehr, ich muß mit dir sprechen.« (S. 61) »Ich bewundere den glatten, unbehaarten, muskulösen Körper des kleinen Mannes, er verdrängt den gemütlichen Teddy Onkel Sami aus meiner Sehnsucht.« (S. 49)
Ich: »Schluß. Es ist genug. Ich habe dich anders gedacht.« (S. 60)
Delfin: »Erwachsenwerden ist nicht mehr Spiel. Und um zu beweisen, daß wir Freunde sind, trinke ich den Weinbrand und rauche die Zigarette.« (S. 86) Denn: »Fleiß, Kameradschaft, Verantwortungsfreude – das ist das Geheimnis« (S. 81).
Zurück im Zug habe ich noch lange den Geschmack von Weinbrand und Zigarette im Mund.
Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Zürich; Hamburg: Arche 2001. S. 5–110 (= 106 Textseiten).
Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Berlin: List 2004.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)